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Markus Leumann

Für den Winzer gibt es kein Schema F mehr

Mit dem Klimawandel kann nun im Kanton Schaffhausen auch Merlot angebaut werden. Doch das ist nur die eine Seite der Medaille.

Markus Leumann, ist der Klimawandel eher Chance oder Gefahr für den Weinbau?
Auf den ersten Blick eröffnen sich neue Möglichkeiten. Heute kann man im Klettgau Merlot anpflanzen, das war vor zwanzig Jahren noch undenkbar. So gesehen kann man den Klimawandel durchaus auch als Chance für die einheimischen Winzer sehen.

Aber?
Neue Sorten wie der Merlot können zwar ein Teil der langfristigen Strategie sein. Das allein reicht aber keineswegs aus. 

Warum nicht?
Weil der Klimawandel alles durcheinander bringt. Es gibt kein verlässliches Schema F mehr, auf das sich die Winzer verlassen können.

Was meinen Sie mit Schema F?
Schauen Sie, Winzer hätten am liebsten immer ein normales Jahr. Das macht es für sie vorhersagbar und damit gut planbar.

Jetzt ist Mitte November. Können Sie uns im Schnelldurchlauf sagen, wie ein normales Jahr in den Rebbergen ablaufen würde?
Wenn ich von einem Winter ausgehe, der seinen Namen auch verdient, kommen nun die ersten Frosttage. Im Rebberg fällt das Laub, das Holz ist ausreichend mit Nährstoffen versorgt. Die Rebe kann in die Winterruhe gehen und sich auf das neue Jahr vorbereiten. Wenn im Frühling die Temperaturen steigen, wacht die Rebe langsam wieder auf. Nach einem Monat sieht man die ersten Knospen, einen Monat später ist die Rebe grün. Im Sommer blühen die Reben. Früher hatte man dafür sogar einen Stichtag: Johanni am 24. Juni. Unsere Grosseltern zitierten noch eine alte Bauernregel: «Z Johanni us de Räbe goo und Truube blüeje loo», weil man die Rebe in diesen Tagen in Ruhe lassen sollte. Mitte Juli sehen wir bereits hängende Trauben. Wieder einen Monat später sind die ersten Trauben reif. Sie sind jetzt in der Phase des Farbumschlags, bei roten Trauben kann es von grün zu rot, blau oder fast schwarz wechseln. Die Trauben werden weich und aromatisch. Mitte September ist die Lese, bei gewissen Sorten erst im Oktober. Und dann beginnt der Jahresverlauf wieder von Neuem.

Wenn Sie das so beschreiben, klingt es wie eine sehr rhythmische Taktfolge.
Bis auf die drei Monate Winterruhe macht die Rebe jeden Monat einen Entwicklungsschritt. Für den aufmerksamen Spaziergänger gibt es immer etwas zu sehen, etwa das Weinen am Ende des Winters: Das sind Tropfen, die dann jeweils wunderschön in der Frühlingssonne glitzern. Sie entstehen übrigens, wenn die Pflanzensäfte aus den Wurzeln in den Stock aufsteigen und an den Schnittstellen austreten.

Nun sagen Sie aber, dieses normale Jahr, dieses Schema F, gibt es in Folge des Klimawandels nicht mehr. Was passiert da gerade aus Ihrer Sicht?
Was sicher einmal auffällt ist, dass sich diese Stadien zeitlich nach vorne verschieben, meistens jedenfalls. Dieses Jahr zum Beispiel waren bereits Mitte August die ersten Trauben in der Kellerei, rekordverdächtig früh.

Um ein Gefühl dafür zu kriegen: Beim Weizen spricht man davon, dass die Ernte jährlich um einen halben Tag nach vorne verschoben wird. Das klingt erstmal nach wenig, aber auf die letzten vierzig Jahre bezogen macht das immerhin rund zwanzig Tage aus. Sprechen wir beim Weinbau von einer ähnlichen Grössenordnung?
Da sind wir bei einem entscheidenden Punkt: Das lässt sich so allgemein eben nicht sagen. Manchmal ist die Lese einen ganzen Monat früher, wie jetzt im Jahr 2022, manchmal auch nur drei Tage, manchmal findet sie sogar später als üblich statt. Es wäre viel zu stark vereinfacht, wenn man die Folgen des Klimawandels darauf reduzieren würde, es verschiebe sich halt alles ein bisschen nach vorne. Nein, das Problem ist: Wir können den Ablauf nicht mehr zuverlässig vorhersagen.

Das müssen Sie erklären. Wir steuern doch auf lange Sicht auf ein mediterranes Klima zu: Der Sommer kommt früher, dauert länger und wird trockener und heisser. Für das Jahr 2035 rechnen Experten bereits mit 10 bis 15 Hitzetagen in Schaffhausen, also Tagen mit über 30 Grad Celsius.
Und wann genau sind diese Hitzetage – im Mai schon oder erst im Juli? Zehn nacheinander oder eher verteilt? Für den Weinbau sind das die entscheidenden Fragen. Klimamodelle liefern Indizien und Tendenzen über Jahrzehnte hinweg. Das ist wichtig. Aber Winzer müssen Jahr für Jahr planen und entscheiden. Und in diesem kurzfristigen Zeitrahmen verändert sich mehr, als man von aussen denkt. Weil die punktuellen Extremereignisse zugenommen haben: Frost, Hitze, Hagel, Regen.

Das ist spannend. Sie sagen im Grunde: Klimawandel, das ist für den Winzer nicht in erster Linie der langfristige Trend zu einem heissen und trockenen Sommer, sondern vor allem kurzfristiges Extremwetter.
Genau. In den letzten zehn Jahren war im Kanton Schaffhausen wettermässig kein Jahr wie das andere. 2011: Hagel, aber ein goldener Herbst. 2012: Rekord-Frost im Februar, minus 18 Grad in Hallau. 2013: Alles stark verzögert, Ernte zum Teil erst im November. 2014: Kaum Schnee und ein tropischer Sommer, neue Schädlinge wie die Kirschessigfliege. 2015: Kalter Winter, heisser Sommer. 2016: später Frost. 2017: eisiger April, Frostruten im Einsatz. 2018: Perfektes, sonniges und trockenes Jahr mit hervorragenden Erträgen, eigentlich fast zu viel. 2019: Rasantes Wachstum, alle Stadien verfrüht. 2020: einziges normales Jahr nach Schema F – aber mit Corona. 2021: zehn Wochen nur Regen, Pilzwetter, der absolute Horror.

«Ein Jahr zum Vergessen», haben Sie in einem NZZ-Interview über das Jahr 2021 gesagt.
Was die Buchhaltung betrifft, ja. Beim Winzer aber hätte sich vor allem etwas tief ins Gedächtnis eingraben müssen: Es kann alles schiefgehen. 

Dies gilt auch für den Merlot. In der breiten Öffentlichkeit steht er oft als Symbol für die Chancen des Klimawandels beim Weinbau, aber faktisch gab es bisher offenbar nur wenige gute Jahre.
Auch hier gibt es kein regelmässiges Muster. Wir hatten zum Beispiel noch nie so einen guten Merlot wie im Jahr 2018. Ein fantastischer Jahrgang! Ich sagte damals bewusst übertrieben, Schaffhausen müsse sich wohl bald umbenennen, vom Blauburgunder-Land zum Merlot-Land. 2021 ist gerade dann der Merlot brutal in den Hammer gelaufen, 2022 hat es wieder gut funktioniert. 

Deshalb sagen Sie: Der Merlot ist nicht die Lösung für die Probleme, die der Klimawandel mit sich bringt.
Das Beispiel Merlot zeigt für mich vielmehr, wie schwierig die Planung geworden ist. Mit einer Umstellung der Sorten ist es nicht getan. Zumal man nicht vergessen darf, dass der Weinbau eine Frage von Generationen ist.

Was meinen Sie damit?
Bleiben wir beim Merlot. Das Pflanzen dieser Sorte begann im Klettgau bereits vor über zehn Jahren. Damals hat noch niemand vom Merlot-Land gesprochen. Eine Rebe hat eine Ertragsphase von rund dreissig Jahren, dann ist sie betriebswirtschaftlich abgeschrieben. In Schaffhausen haben wir an bestimmten Orten sogar 50-jährige Reben. Selbst wenn die Winzer eine Glaskugel hätten und das Wetter im kommende Jahr im Voraus genau kennen würden, könnten sie nicht Jahr für Jahr beliebig ändern, was sie grad anpflanzen.

Damit müssen die Winzer einerseits langfristig planen, was die Auswahl der Rebsorten betrifft, in Folge der extremen Wettereignisse aber im Verlaufe eines Jahres immer kurzfristiger reagieren können, um den Ertrag zu sichern.
Das ist heute die grosse Herausforderung. Der Weinbau ist zum Termingeschäft geworden.

Jetzt haben wir die Herausforderungen skizziert. Lassen Sie uns zum Schluss noch kurz über Lösungen sprechen. Was könnte der Schlüssel zu Erfolg sein?
Das breite Sortiment habe ich bereits angesprochen, das ist sicher Teil einer erfolgreichen langfristigen Strategie. Im Tagesgeschäft hingegen wird es immer matchentscheidender, gut zu beobachten und schnell zu reagieren. Was dem Spaziergänger zufällig mal am Wochenende auffällt, muss der Rebbauer fast schon Stunde für Stunde im Blick haben. 

Da reden wir aber nicht nur vom menschlichen Auge.
Nein, die moderne Technik hilft enorm dabei, das Termingeschäft besser in den Griff zu bekommen.

Was meinen Sie damit konkret?
Zum Beispiel Drohnen, die gehören schon fast zum Standard. Und diese Entwicklung wird noch viel weiter gehen. Sensoren dürften bereits schon in wenigen Jahren in Echtzeit den Gesundheitszustand der einzelnen Rebe übermitteln. Die Technik liefert dem Winzer präzise Informationen, bis auf den einzelnen Quadratmeter heruntergebrochen, damit er schnell entscheiden und handeln kann. 

Noch am selben Tag.
So ist es. Der Winzer braucht vor allem für heute aussagekräftige Daten – und nicht für 2035.

Die Fragen.

Wie wird man als Stadt klimafreundlicher?

Das Ziel ist klar: Bis 2050 soll in vielen Städten die «netto null» stehen. Doch wie kommt man dahin?

Markus Leumann

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