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Caspar Hirschi

Experten sollten als ehrliche Makler auftreten

Klimaforscher könnten sich produktiv in die Debatte zum Klimawandel einbringen. Doch diese Rolle ist sehr voraussetzungsreich, wie der Historiker Caspar Hirschi erklärt.

Caspar Hirschi, im Umgang mit Krisen gibt es den Fachbegriff der Tornadopolitik. Was ist das?
Der Begriff stammt von Roger Pielke, einem US-amerikanischen Politikwissenschaftler. Er bezeichnet damit eine Art von Krisenpolitik, die zum einen auf einem gesicherten Wissen darüber beruht, worin die Bedrohung besteht und zum andern auf einem Wertekonsens in der Gesellschaft, was die Ziele sind und welche Massnahmen es braucht. 

Um grad das Beispiel eines Tornados zu nehmen: Man ist sich einig darüber, wann er wo aufs Festland trifft und dass man Teile der Bevölkerung evakuieren muss, weil Leben gefährdet sind.
Es geht sogar noch weiter: Der Staat zahlt nachher für die Schäden und den Wiederaufbau, man hat also vom Anfang bis zum Schluss eine Einigkeit über die Bewältigung des Tornados. Die bittere Pointe ist aber, dass diese expertokratische Art von Krisenpolitik in den USA heute selbst bei Tornados oder Hurrikanen nicht mehr funktioniert. Beim Tropensturm Milton im Oktober 2024 gab es in den sozialen Medien eine Flut von Desinformationen. 

Milton sei von der Regierung erzeugt worden, um die Baubranche anzukurbeln. Es kursierten KI-generierte Bilder von Überschwemmungen und wilde Gerüchte, die Hilfskräfte würden bestimmte Bevölkerungsgruppen bevorzugen.
Die Folge: Rettungsmassnahmen wurden behindert, das Vertrauen in die Regierung schwand.

Blicken wir in die Schweiz. Gibt es da noch Beispiele von Tornadopolitik?
Der klassische Fall ist auch bei uns der Umgang mit Naturkatastrophen. Die zuständigen Behörden verteilen die Risiken nach einem klaren Ablaufplan, und die Bevölkerung akzeptiert, wie vorgegangen wird. Das kann allerdings auch hier in der Schweiz ziemlich viel Sprengstoff bergen. 

Warum?
Nehmen wir an, die Aare überschwemmt in der Region vom Thunersee. Wo überall öffnet man jetzt die Schleusen: in Thun, in Bern, erst weiter unten im Flussverlauf? Das sind heikle Entscheide zur Schadensverteilung, die politischen Sprengstoff bergen. Und doch ist es bisher kaum zur Politisierung des Katastrophenschutzes gekommen. Warum? Weil die Bevölkerung den zuständigen Experten vertraut, dass sie auf bester Erkenntnisgrundlage den Schaden für die Gesamtbevölkerung möglichst klein halten.

Wurde in der Corona-Pandemie eigentlich eine Tornadopolitik durchgesetzt?
Zu Beginn durchaus, ja. Der erste Lockdown, so massiv der Eingriff war, wurde von einem grossen Teil der Bevölkerung relativ klaglos hingenommen. Das Gefühl der Bedrohung und die Angst vor einer noch weitgehend unbekannten Gefahr führten dazu, dass die Autorität der Wissenschaften und der massive Eingriff der Politik akzeptiert wurden und es einen breiten Wertekonsens gab, was zu tun sei.

Was geschah danach?
Dieser Wertekonsens zerbrach.

Die einen wollten die Gesundheit schützen, andere den Wohlstand, dritte ihre persönliche Freiheit bewahren.
Dieser Dissens ist ein Merkmal eines anderen Typs der Krisenpolitik, der sogenannten Abtreibungspolitik. Die Bezeichnung bezieht sich auf die seit Jahrzehnten bestehende Kontroverse in den USA, wie man mit der Frage der Abtreibung umgehen soll. Während das eine Lager eine Abtreibung bis in den neunten Monat befürwortet, fordert die Gegenseite ein totales Verbot. 

Zwei völlig unterschiedliche Wertevorstellungen.
Mehr noch – Roger Pielke sagt, es gibt dort nicht einmal eine gemeinsame Wissensbasis. Jene, welche die Abtreibung ablehnen, berufen sich auf die wissenschaftliche Expertise zum Beginn des Lebens. Die Pro-Seite argumentiert mit den problematischen Folgen ungewollter Schwangerschaften und den unzureichenden Selbstbestimmungsrechten der Frauen. Diese beiden Wissensbestände sind unvereinbar. 

Mit welchen Folgen?
Der Streit verschärft sich. Die Gegenseite ist nicht nur moralisch fragwürdig, sondern liegt falsch oder leugnet die Wahrheit. So werden beide Seiten sowohl in ihren fundamentalen Werteprioritäten wie auch in ihren Wahrheitsansprüchen delegitimiert. Das hat der österreichische Soziologe Alexander Bogner detailliert beschrieben.

Sie sprechen in diesem Zusammenhang davon, dass Wertekonflikte als Wissenskonflikte ausgetragen werden. Was bedeutet das für die Wissenschaft?
Sie kann keinen Konsens mehr schaffen, sondern wird vielmehr zum Zankapfel.

Eine verfahrene Situation. Wie kommt man da wieder raus?
Interessant ist, wie man in Europa den Konflikt um die Frage der Abtreibung gelöst hat. Indem man ihn nämlich von einem Wissenskonflikt in einen Interessenkonflikt umgewandelt hat, wie der Soziologe Wolfgang van den Daele schön nachzeichnen konnte. Der Grundgedanke: Bei Werten gibt es keine Kompromisse – also zum Beispiel zwischen dem Recht auf Leben und der Selbstbestimmung der Frau. Das funktioniert einfach nicht. Wenn man aber den Konflikt als ein Aufeinandertreffen unterschiedlicher Interessen rahmt, werden faule Kompromisse ermöglicht. 

Wie kann man sich das konkret vorstellen?
Alle betroffenen Parteien, von den Kirchen bis zu den Frauenrechtsvereinen, setzten sich an einen Tisch. Die Leitfrage war: Gibt es übergeordnete Interessen, auf die sich beide Seiten trotz unterschiedlicher Werte einigen können? Das machte den Weg frei für eine Lösung, mit der am Schluss alle gleich unzufrieden waren. Die Fristenlösung ist ja moralisch in keiner Art und Weise überzeugend: Das Leben beginnt nicht erst im dritten Monat, und die Frauenrechte sollten im dritten Monat auch nicht aufhören. Aber es hat den Konflikt weitgehend befriedet.

Was ist die Lehre daraus?
Wertekonflikte kann man nicht auflösen, aber man kann sie entschärfen. 

Schlagen wir hier die Brücke zur Klimakrise. Was heisst das für die Klimadebatte und die Rolle der Experten?
Wenn Experten das grundlegende Problem als «Leugnung» des Klimawandels rahmen, befeuern sie den Konflikt. Rahmen sie es hingegen als «Umsetzungsproblem», kommt eine andere Bewegung in die Sache. Konkret: Die Rolle der Wissenschaft zum Management der Klimakrise wäre produktiver, wenn sie in erster Linie mögliche politische Entscheide in Bezug auf ihre wahrscheinlichen Folgen für den Klimawandel sowie für die Wirtschaft und Gesellschaft vergleichen würde.

Also zum Beispiel was die Konsequenzen eines Verbots von Öl- und Gasheizungen wären. Oder der Förderung von Technologien, mit denen CO2 aus der Luft gefiltert wird.
Roger Pielke nennt das die Rolle des «honest broker». Der ehrliche Makler ist einer, der aufzeigt, was in einer bestimmten Situation die Risiken und Chancen verschiedener Entscheidungsoptionen sind, seine persönliche Meinung dazu aber so weit wie möglich ausblendet. Das Modell ist allerdings sehr voraussetzungsreich. 

Inwiefern?
Die Politik muss bereit sein, sich wirklich eingehend mit diesen Optionen auseinanderzusetzen. Sie muss danach selber entscheiden und nicht die Experten fragen, was zu tun sei. Und sie muss öffentlich Verantwortung übernehmen und darf die Massnahmen nicht damit begründen, dass man eben der Wissenschaft gefolgt sei. 

Wie in der Pandemie manchmal geschehen.
Genau. Bei den Experten wiederum setzt es voraus, dass sie sich darauf beschränken, der Politik Entscheidungsgrundlagen zu liefern. So ist ihr Beitrag insgesamt auch produktiver, als wenn sie hauptsächlich als Mahner oder sogar als Protestintellektuelle auftreten.



Wie gut gelingt das den Experten in der Klimakrise?
Interessant an der Klimakrise ist, dass sie auf der globalen Ebene mit dem Weltklimarat IPCC eine Institution geschaffen hat, die den Ansatz des ehrlichen Maklers seit Jahrzehnten kultiviert. Dort entwickeln international führende Forscher Szenarien, wie sich das Klima künftig unter bestimmten Rahmenbedingungen verändern könnte und bereiten das mit dem Leitsatz «policy relevant but not policy prescriptive» für die politischen Entscheidungsträger auf. 

Gibt es auch gute Beispiele in der Schweiz?
Die Plattform ProClim bringt wichtige Akteure zusammen und schafft damit ein Forum für Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, wo der Klimawandel diskutiert werden kann. Da wird viel geleistet. Was aber auch wahr ist: Es gibt prominente Forscher, die das Modell des ehrlichen Maklers klar ablehnen.

Diese Experten bringen sich persönlich stärker ein und fordern bestimmte politische Massnahmen.
Und die Medien forcieren das, indem sie beispielsweise bei den IPCC Berichten den Worst Case Szenarien viel mehr Aufmerksamkeit schenken als den «gemässigteren» Szenarien, die eine höhere Eintrittswahrscheinlichkeit ausweisen. Das führt zu einem kommunikativen Problem für die wissenschaftlichen Experten: Sie müssten eigentlich darlegen, dass diese Katastrophenszenarien nur mit einer geringen Wahrscheinlichkeit eintreten. Gleichzeitig wünschen sie sich aber mit guten Gründen eine aktivere Rolle der Politik. Es gibt also einen Konflikt zwischen der wissenschaftlichen Seriosität und den politischen Zielen. 

Woran machen Sie das fest?
Ein wissenschaftliches Konzept, wo das gut zum Ausdruck kommt, ist jenes der Tipping Points, der Kipppunkte. Es umfasst die Vorstellung, dass sich das Klima durch menschlichen Einfluss abrupt verändern kann und ab einem bestimmten Punkt irreversible Veränderungen die Folge sind.

Das kann zum Beispiel auf den Grönland-Eisschild bezogen werden, der ab einer globalen Erwärmung von rund 2° Celsius unaufhaltsam abschmelzen wird. Kipppunkte sind aktuell sehr populär.
Aber innerhalb der Klimawissenschaften umstritten. Interessanterweise ist es ja nicht einmal ein naturwissenschaftliches Konzept. Es stammt aus den Sozialwissenschaften, als in den USA untersucht wurde, ab welchem Punkt es zu White Flight kommt – also zur Flucht von Weissen aus Stadtvierteln, in das vermehrt Schwarze einziehen. Hans Joachim Schellnhuber, einer der führenden Köpfe der Klimaforschung, hat das beim bekannten US-amerikanischen Autor Malcolm Gladwell aufgeschnappt und auf die Klimadebatte übertragen. Sekundiert wurde er dabei von Klimaforschern, denen es in der Klimapolitik nicht schnell genug vorwärts ging. 

Das ist natürlich raffiniert: Die Botschaft der politischen Dringlichkeit wird in einem wissenschaftlichen Konzept verpackt.
Das Bild der Kipppunkte trägt dazu bei, dass die Diskussion über den Klimawandel nochmals schärfer und alarmistischer geführt wird. Es scheint mir allerdings nicht zielführend, wenn man die ganze Zeit sagt, es sei fünf vor zwölf.

Gibt es denn aus historischer Sicht ein Rollenmodell, an dem sich die Experten orientieren könnten?
Was die grosse Herausforderung des Klimawandels betrifft, finde ich den Vergleich mit der Cholera im 19. Jahrhundert interessant. Diese Infektionskrankheit hat Jahrzehnte lang in Europa gewütet. Letztlich hat man sie erfolgreich bekämpft, bevor man im Detail wusste, was die Ursachen waren. Was ich damit sagen will: Es braucht eine langfristige, vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Politik, Wissenschaft und Medien, und es braucht das bescheidene Eingeständnis von Ungewissheit auf allen Seiten. Man muss geduldig dicke Bretter bohren. Aber die Bereitschaft dazu ist heute eher gering ausgeprägt.

Sie haben mit Politikwissenschaftlern im Auftrag des Schweizer Wissenschaftsrats einen Bericht verfasst, wo Sie mehrere Krisen miteinander verglichen und daraus Lehren für die Krisenbewältigung in der Zukunft gezogen haben. Was ist die Grundidee?
Bei akuten Krisen, wo die Unsicherheit gross und die Erfahrung im Umgang mit ihnen gering sind, sollen künftig wissenschaftliche Ad-Hoc-Beratungsgremien berufen werden. Das sind interdisziplinäre Gruppen von 10 bis 12 Experten – also deutlich kleiner als die Science Task Force der Pandemie –, die sich zuvor in einem grösseren Netzwerk mit thematischen Clustern auf verschiedene Krisenszenarien vorbereitet haben. 

Von welchen Krisen sprechen wir?
Vorerst geht es um weit gespannte Themen wie Cybersicherheit, Gesundheit und internationale Politik, danach sollen weitere Themen mit Krisenpotential dazukommen.

Wo sehen Sie die grösste Herausforderung in der Umsetzung?
Die Erwartung der Politik ist, dass die Wissenschaft nicht Empfehlungen macht oder Anweisungen gibt, sondern «Honest Brokerage» im Sinne von Pielke betreibt, das heisst Optionen mit den jeweiligen Vor- und Nachteilen und normativen Implikationen aufzeigt. Das wird für beide Seiten ein wichtiger, aber schwieriger Lernprozess sein.

Die Fragen.

Wo klemmt's in der Klimadebatte?

Wenn es ums Klima geht, winken viele ab – die Debatte wirkt sperrig, die Fronten scheinen verhärtet. Doch ginge es auch anders?

Caspar Hirschi

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Franz Hohler

Es braucht Fantasiereisen zur Wirklichkeit

Der Klimawandel findet vor unserer Haustür statt. Damit er uns aber wirklich berührt, braucht es einen poetischen Zugang, meint der Schriftsteller Franz Hohler.