Franz Hohler, vor über fünfzig Jahren haben Sie «Der Weltuntergang» geschrieben, eine Ballade über die Folgen des Klimawandels. Was war der Auslöser für diesen Text?
Ein Jahr zuvor erschien das Buch «Die Grenzen des Wachstums» vom Club of Rome. Dort wurde mit wissenschaftlichen Zahlen, Prozenten und Kurven Alarm geschlagen, was die Zukunft der Erde betrifft. Darauf wollte ich in einer Form reagieren, welche den Inhalt hervorhebt, aber die wissenschaftliche Sprache in den Hintergrund rückt.
Warum eine Ballade?
Weil ich dachte: Wer alle diese Statistiken versteht, wird vermutlich sehr beeindruckt sein. Aber für andere Leute braucht es eine Alternative. Eine, die diese Veränderungen unserer Erde möglichst lebendig, drastisch und eindringlich beschreibt. Es muss die Leute berühren.
Das tut es. Aber auf mich wirkt der Tonfall eher nüchtern, fast schon protokollarisch.
Das ist interessant, dass Sie das so auffassen.
(klopft mit den Fingern rhythmisch auf die Tischplatte und rezitiert im Sprechgesang)
Der Weltuntergang
meine Damen und Herren
wird nach dem, was man heute so weiss
etwa folgendermassen vor sich gehen …
Man kommt schnell in einen Drive rein, einen Rhythmus, finden Sie nicht? Das ist ja eigentlich ein Rap avant la lettre gewesen.
Das Bewusstsein, dass wir ein Problem haben, war damals in der Bevölkerung noch wenig ausgeprägt. Woher haben Sie den Mut genommen, den Weltuntergang anzukünden?
Dieses Buch war ein Weckruf für mich. Besonders die Erkenntnis, dass alles auf unserer Erde irgendwie miteinander zusammenhängt.
Zum Beispiel?
Es wurden Bleirückstände im Grönland-Eis nachgewiesen. Obwohl es damals in Grönland nur sehr wenige Autos gab! Da wurde einem die Ubiquität, die Allgegenwart von Schadstoffen eindrücklich vor Augen geführt. Ähnlich ist es heute mit den PFAS, die auch die Tendenz haben, sich global zu verbreiten.
Das erinnert mich an den Schmetterlingseffekt: Ein Flügelschlag eines Schmetterlings an einem Ort kann in einer langen Kettenreaktion das Wetter am anderen Ende der Welt beeinflussen.
Sehen Sie, das ist auch ein poetisches Bild. Das bleibt im Gedächtnis haften.
Wenn Sie heute eine neue Version von «Der Weltuntergang» schreiben müssten: Was würden Sie anders machen?
Inhaltlich nichts. Vielleicht würde ich eine andere Form wählen. Vor ein paar Jahren wurde ich vom Berner Stadttheater gefragt, ob ich ein Theaterstück für Kinder über den Klimawandel machen würde. Daraus entstand «Cengalo der Gletscherfloh». Dieser bewohnt hoch oben in den Alpen mit seiner Familie eine Eishöhle. Eines Tages tropft es von der Decke – der Klimawandel macht sich bemerkbar. Der schmelzende Gletscher zeugt davon, dass sich etwas fundamental verändert und in unser Leben eingreift. Das hat nicht nur den Kindern Eindruck gemacht, sondern auch den Erwachsenen.
Was kann Literatur, was Politik und Wissenschaft nicht können?
Sie kann Herz und Gemüt berühren. Alles, was poetisch ist, literarisch, künstlerisch, ist nicht in erster Linie Information. Es geht darum, die Welt auf eine andere Art zu sehen, als sie sich real zeigt. Und das in eine Geschichte zu verpacken.
Wie entsteht bei Ihnen eine Geschichte?
Ich mache Ihnen ein Beispiel. Hier von meinem Büro aus sah man früher eine Fernsehantenne auf dem Nachbardach. Eines Tages erblickte ich einen grossen Vogel auf dieser Antenne. Kurz danach war er schon wieder weg, aber in meinem Kopf begann eine Fantasiereise: Was wäre jetzt, wenn das ein Adler gewesen wäre? Ein Vorbote der Natur, die sich den Raum zurückerobert und am Ende Zürich in einen Dschungel verwandelt? So entstand die Erzählung «Die Rückeroberung», die 1982 veröffentlicht wurde. Heute noch schicken mir Leute Fotos, zum Beispiel von einem parkierten Auto, das von Pflanzen überwuchert ist, und schreiben dazu: «Als ich das gesehen habe, habe ich sofort an Ihre Rückeroberung gedacht.»