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Lukas Bärfuss

Es geht gerade darum, überfahren zu werden

Er hasst es, zu scheitern, sagt der Schriftsteller Lukas Bärfuss – und nimmt es trotzdem immer wieder ganz bewusst in Kauf. Wie erklärt sich dieser scheinbare Widerspruch?

Herr Bärfuss, zu scheitern taugt heute schon fast zum Lebensmotto. Stan Wawrinka hat ein Zitat des Schriftstellers Samuel Beckett auf seinen Unterarm tätowieren lassen: «Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.» Können Sie sich mit diesen Worten identifizieren?
Das hat natürlich etwas sehr Heldenhaftes. Nur: Das auf einen Unterarm zu tätowieren ist etwas anderes, als es wirklich zu erleben. Ich empfinde Scheitern als etwas Fürchterliches, ich hasse es, zu scheitern – und trotzdem setze ich mich ihm bewusst aus.

Warum?
Weil ich weiss, dass Scheitern ein notwendiger Bestandteil meiner Arbeit ist. Kunst entsteht gerade in der Differenz zwischen meinem Anspruch und meinem Vermögen. Die Ziele, die ich mir setze, sollten ein wenig über meine Möglichkeiten als Künstler hinausgehen. Sind Anspruch und Vermögen identisch, entsteht lediglich Kitsch. Ist die Differenz hingegen zu gross, dann scheitere ich nicht schön, sondern dilettantisch.

Woran merken Sie denn, dass die Differenz genau richtig ist?
Wenn ich es schaffe, die Distanz zwischen dem, was ich will, und dem, was ich kann, möglichst klein zu halten, dann komme ich in einen Bereich, in dem das, was ich mache, noch auf meine Intervention reagiert, aber sich nicht mehr vollständig kontrollieren lässt.

Sie vertreten genau die gegenteilige Haltung wie meine bisherigen Gesprächspartner. Für den Sportpsychologen Hanspeter Gubelmann beispielsweise ist es eben grad zentral, die Kontrolle zu haben – oder sie so schnell wie möglich wieder zu gewinnen, wenn man gescheitert ist. Unterscheiden sich Kunst und Sport so fundamental voneinander?
Kunst ist ein Kommunikationssystem und nicht primär ein Kampf wie der Sport. Dort findet man eine isolierte Situation vor, in der die Regeln klar sind und mehrheitlich pragmatische Zusammenhänge vorliegen: Was ich investiere steht in einem direkten Zusammenhang zu dem, was ich erhalte. Wenn es einen Sieger und einen Verlierer gibt, wird die Kontrolle der Mittel sinnvoll sein. Ein Kunstwerk funktioniert nicht so. Die Sachen sind nicht eindeutig. Oft entsteht das Beste, wenn man nicht mehr kontrolliert.

Keine Kontrolle mehr zu haben – das ist für viele mit Angst verbunden. Für Sie nicht?
Sicher, auch, aber mit dem Wissen, dass darin eine Freiheit liegt, weil ich jenseits meiner Ambitionen bin. Die Dichterin Else Lasker-Schüler hat mal sinngemäss gesagt: Die künstlerische Arbeit definiert sich jenseits des Ehrgeizes.

Sie verspüren nie den Wunsch, alles kontrollieren zu können, wenn Sie ein Buch schreiben?
Natürlich verspüre ich diesen Wunsch, aber diese Art von Kontrolle wäre in der Sprache nicht möglich.

Warum nicht?
Weil dieses System nicht eindeutig ist. Es verweist auf eine Differenz zwischen dem, was ich sagen will, jenem, was gehört wird und schliesslich jenem, was gelesen und verstanden werden kann.

Ich kann mir noch nichts Genaues darunter vorstellen. Wo zeigt sich diese Differenz ganz konkret?
Schon in den Wörtern. Wenn ich in einer Geschichte «Baum» schreibe, machen Sie sich ein ganz konkretes Bild davon. Das ist allerdings nicht kongruent mit meiner Vorstellung. Sie stellen sich vielleicht einen Apfelbaum vor – bei mir aber ist es ein Kirschbaum.

Dann könnten Sie ja einfach «Kirschbaum» statt «Baum» schreiben.
Das könnte ich, aber hat Ihr Kirschbaum Blüten?

Ja.
Meiner nicht. Bei Ihnen scheint die Sonne, bei mir aber regnet es, und so weiter. Ich kann mit meiner Abstraktion nie vollständig definieren, wie Ihre Konkretisierung ausschaut. Das ist aber etwas Fürchterliches für einen Schriftsteller, denn ich versuche ja, eine möglichst genaue Vorstellungswelt zu schaffen.

Man könnte jetzt sagen: Das ist doch gar nicht so schlimm, dass mein Kirschbaum Blüten hat und Ihrer nicht.
Natürlich, aber es geht weit über das einzelne Wort hinaus. Ein Beispiel dafür ist das Bildnis Papst Innocent X. aus dem Jahre 1650. Der Maler, Diego Velàsquez, wollte ihn in seiner ganzen Würde und Pracht porträtieren, in seinem Kostüm, auf seinem Thron, als Kirchenfürst in seiner vollen Grösse. Wir aber sehen etwas anderes. Einen alten Mann, der auf einem Stühlchen hockt und nicht weiss, was mit ihm geschieht. Wir sehen die Schwäche, nicht die Pracht. Das, was uns berührt, ist jenseits des Ehrgeizes von Velàsquez, ist jenseits dessen, was er wollte.

Was ist jenseits dessen, was Sie wollten? Oder anders gefragt: Woran merken Sie bei Ihren Werken, dass Sie gescheitert sind?
Das Scheitern ist ohne Anfang und Ende. Ich sehe Sätze, die schräg oder gar nicht klingen, Abschnitte die nicht funktionieren - es ist im Grossen wie im Kleinen.

Gemäss Samuel Beckett könnten Sie sich dann sagen: kein Problem!
Im Gegenteil, es regt mich fürchterlich auf! Ich verbringe so viel Zeit mit diesen Wörtern und Sätzen, dann sehe ich sie gedruckt und denke: Wie konnte ich das übersehen! Es wäre so einfach gewesen! Ich finde das furchtbar.

Das erstaunt mich, denn Sie haben ja genau diesen Zustand, es nicht ganz kontrollieren zu können, gesucht. Es müsste Sie doch vielmehr darin bestätigen, ihn gefunden zu haben.
Das Scheitern ist vielleicht notwendig, aber es bleibt eine furchtbare Empfindung, die man bestimmt nicht lieben soll. Und zudem würde ein Einverständnis ja auch eine Zufriedenheit voraussetzen mit dem, was man gemacht hat. Das kenne ich nicht. Schliesslich steht man seinen eigenen Sachen auch in einer handwerklichen Position gegenüber, sieht holprige Übergänge oder denkt, da hätte es ein genaueres Wort, dort eine passendere Metapher gegeben.

Wonach streben Sie auf dieser handwerklichen Ebene?
Nach der Schönheit, nach der Perfektion. Das Problem ist allerdings: Ein Buch hält immer nur jenen Moment fest, in dem das Manuskript in den Druck gegangen ist. Aber am nächsten Tag weiss ich ja schon wieder mehr, weil ich ein neues Wort gelernt habe zum Beispiel. Man begegnet einem Text nie zweimal gleich. Sie haben vorhin nach dem Scheitern gefragt: Es besteht darin, dass ich eine Vorstellung habe von dieser Schönheit, davon, was ich gerne erreichen möchte – und es nicht schaffe.

Der Psychiater Daniel Hell rät nach einem Scheitern zu aktiver Resignation und meint damit: Man solle auf das Unmögliche verzichten, dafür nach dem Möglichen greifen. Wäre das ein Ansatz für Sie beim Schreiben – um Ihrem Ideal näherzukommen?
Nein, überhaupt nicht. Ich mache genau das Gegenteil: Auf das Mögliche verzichten und nach dem Unmöglichen greifen. Das ist mein Weg. Aktive Resignation hat Zufriedenheit zum Ziel. Das verstehe ich im therapeutischen Zusammenhang gut, ist aber nichts, wonach ich mein Leben ausrichte.

Sondern?
Intensität! Das ist viel wichtiger. Wenn ich nach links und rechts schaue, bevor ich die Strasse überquere, dann komme ich in der Regel sicher auf der anderen Seite an. Da geht es um Berechenbarkeit. In der Kunst hingegen geht es darum, dass ich vom Unbekannten überfahren werde.

Einerseits wollen Sie die Kontrolle über den künstlerischen Prozess gar nicht, wollen überfahren werden, andererseits leiden Sie darunter, wenn genau das passiert. Ist das nicht ein Widerspruch?
Nein, eine Haltung. Viele Leute, die unsere Welt geprägt haben und die ich dafür bewundere, haben das persönliche Unglück in Kauf genommen, um das Unmögliche zu denken und danach zu greifen, sie haben sich nicht zufrieden gegeben mit dem persönlichen Glück: Giordano Bruno, Galileo Galilei, James Joyce, Gottfried Keller, Annette von Droste-Hülshoff ... niemand von denen hat nach gängigen Kriterien ein glückliches Leben geführt.

Sie nehmen in Kauf, dass Sie scheitern, ärgern sich gleichwohl darüber, wenn es dann passiert – wie gut können Sie es akzeptieren?
Auf der einen Seite liebe ich den Reichtum der Sprache, und auf der anderen Seite muss ich anerkennen, dass das, was ich mache, an einem entscheidenden Punkt gerade deshalb nicht kontrollierbar ist. Das ist eine Kränkung, das kann man nicht schönreden. Theoretisch kann ich das akzeptieren, aber in der praktischen Arbeit ist das sehr schwierig.

Wie schaffen Sie es trotzdem?
Wenn ich es nicht tun würde, dann würde das ja bedeuten, dass ich diese Aversionen und Leidenschaften, also den emotionalen Unterbau, der mich zum Schreiben bringt, überwinden will, und das ist nicht der Fall. Was ich mache, ist ein grosses Privileg, eine wunderbare Existenzform, und deshalb akzeptiere ich Momente, in denen ich keinen Ausweg sehe.

Freud und Leid scheinen sich bei Ihnen sogar zu bedingen, kann man das so sagen?
Probleme beim Schreiben sind im Grunde die grössten Verbündeten des Schriftstellers, weil sie den Ort des grösstmöglichen Widerstands beschreiben, der grösstmöglichen Verletzung, aber auch der grösstmöglichen Lebendigkeit. Und wenn ich es nicht schaffe zu akzeptieren, dass ich dort in der Ecke bin, dann komme ich nicht weiter. In der Ecke, da sind die Chancen! Alle diese Krämpfe und Ängste, die man hat, die sind das Kostbare.

Was genau ist kostbar daran?
Ich habe festgestellt, dass es ein ungemein produktiver Prozess ist, wenn man die eigene Schwäche ins Zentrum seiner Tätigkeit stellt. Es gibt einen Trick, den ich von Heiner Müller, einem Dramatiker, gelernt habe: Wenn beim Schreiben nichts passiert, dann muss man einfach beschreiben, was ist.

Kennen Sie auch Situationen, in denen das nicht klappt?
Klar. Wenn ich in eine Mauer hineinlaufe, dann tut das zuerst einmal weh, dann muss ich mich kurz hinsetzen, mit brummendem Kopf, und dann kann ich es wieder versuchen. Selbstverständlich gibt es diese Momente, wo ich nicht mehr abstrahieren kann, ich nur noch die mühsamen Seiten des Scheiterns wahrnehme. In der Theaterarbeit kommt vor, dass man Fehler probt: Man merkt, das ist eigentlich falsch, und doch wiederholt man es immer wieder, weil man Angst hat sich einzugestehen, dass man umkehren müsste. Wenn das Scheitern kein Problem wäre, dann ginge es letztlich ja auch nicht weiter: «Ever tried, ever failed, no matter». Schluss.

Bei Beckett geht es tatsächlich weiter, im zweiten Teil heisst es: «Try again, fail again, fail better.» Eishockey-Trainer Arno Del Curto strebt wie Sie die Perfektion an, was eben hiesse, nicht einfach nochmals, sondern besser zu scheitern. Scheitern Sie immer besser?
Arno Del Curto hat natürlich einen grossen Vorteil: Er sieht auf dem Score, ob er gewonnen oder verloren hat. Dieses äussere Referenzsystem gibt es in vielen Sportarten. Erfolg und Misserfolg sind eindeutig ablesbar, Fortschritte ersichtlich. Bei mir hingegen nicht.

Sie haben ja auch ein Score: die Verkaufszahlen. Oder das Publikum im Theater.
In meiner Disziplin nehme ich Niederlagen und das Scheitern als sehr ambivalent wahr. Ich habe zum Beispiel erlebt, dass niemand ein bestimmtes Stück sehen wollte, für mich aber war es eine wichtige Arbeit, und ich habe wirklich was gelernt. Und umgekehrt auch: Alle haben mich gefeiert, ich aber stand der Sache sehr skeptisch gegenüber.

Können Sie ein Beispiel geben?
Kürzlich war ich in Norwegen und schaute mir eine Inszenierung eines Stückes an, das ich fürs Schauspielhaus Zürich geschrieben hatte, «Zwanzigtausend Seiten». Ursprünglich war ich von der Idee dieser Inszenierung nicht begeistert, im Gegenteil: Als mich die Kollegen vom norwegischen Nationaltheater letzten Sommer besuchten und fragten, ob sie dieses Stück aufführen könnten, und zwar auf der grossen Bühne, in einem Saal für 600 Leute, mit 15 Schauspielern und einer riesigen Ausstattung, versuchte ich es ihnen auszureden. Ich begründete dies damit, der Bergier-Bericht handle von einem ganz bestimmten Kapitel der Schweizer Geschichte, und ich könne mir nicht vorstellen, wen das in Norwegen interessieren würde. Sie wollten es trotzdem machen – und es wurde ein Riesenerfolg. Immer ausverkauftes Haus, Zusatzvorstellungen ... Ich habe keine Ahnung, warum! Kunst ist nicht berechenbar.

Wenn nun Sie persönlich ein eigenes Werk als missglückt erachten – haben Sie sich dann auch schon die Frage gestellt, wozu dieser Misserfolg gut sein könnte? Für die Unternehmerin Gabriela Manser ist das die zentrale Frage, wenn sie gescheitert ist.
(rezitiert)

Durch so viele Formen geschritten,
durch Ich und Wir und Du,
doch alles blieb erlitten
durch die ewige Frage: wozu? /
Das ist eine Kinderfrage.
Dir wurde erst spät bewusst,
es gibt nur eines: ertrage -
ob Sinn, ob Sucht, ob Sage -
dein fernbestimmtes: Du musst. /
Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge:
die Leere und das gezeichnete Ich.

Heisst es bei Gottfried Benn. Die Wozu-Frage ist eine Kinderfrage. Sie fragt nach einem Zweck, das spielt bei mir in der Kunst aber keine Rolle.

Warum nicht?
Das würde voraussetzen, dass eine Sinnhaftigkeit in diesen Prozessen zu finden ist, ein teleologischer Aspekt, und daran glaube ich nicht. Bei pragmatischen Zusammenhängen wie im Sport oder in der Wirtschaftswelt kann ich mir das schon vorstellen, aber meine Arbeit ist so zwecklos, da funktioniert das nicht. Für mich sind die besten Momente, in denen ich so was wie eine Glückserfahrung habe, gerade die, in denen es keine Fragen mehr gibt, es nur um die aktuelle Handlung geht. In den Essais von Michel de Montaigne gibt es einen Text über das Üben. Für mich ist die konzentrierte Übung, wenn ich ganz in der Tätigkeit versunken bin, etwas ganz Wesentliches. Das beinhaltet einerseits eine Abfolge, Wiederholung, Praktik, andererseits aber auch das Ziel, darin zur Meisterschaft zu gelangen. Schreiben ist bei mir vor allem eine physische Tätigkeit, bei der ich versuche, einen Gedanken in eine körperliche Bewegung umzusetzen. Diese Umsetzung in die Handbewegung braucht Übung, braucht Wiederholung, braucht Rhythmus. Das ist es, was man übt, und das ist es, worin man im Alltag immer wieder scheitert.

Ist es für Sie prinzipiell denn überhaupt vorstellbar, dass Sie mal absolut zufrieden sind mit einem Werk?
Das ist schon vorstellbar – aber das wäre der Moment, wo ich nicht mehr schreiben müsste.

Die Fragen.

Wie scheitert man erfolgreich?

Das Scheitern selber tut immer weh – es kann jedoch auch etwas Gutes zur Folge haben. Doch wie muss man mit Misserfolgen umgehen?

Daniel Hell

Wer gescheitert ist, sollte sich schämen - das hilft

Wer hingegen beschämt ist, verharrt passiv in der Opfer-Rolle. Es sind sprachlich feine, aber inhaltlich grosse Unterschiede, auf die der Psychiater und Psychotherapeut Daniel Hell hinweist.

Hanspeter Gubelmann

Spitzensportler bereiten sich akribisch aufs Scheitern vor

Der Sportpsychologe Hanspeter Gubelmann entwickelt mit den Athleten ganz detaillierte Programme für Krisen und Misserfolge.

Arno Del Curto

Sie wollen über Misserfolg reden? Schon falsch

Falsch deshalb, weil Eishockey-Coach Arno Del Curto verhindern möchte, dass sich seine Spieler nach einem verlorenen Spiel zu lange mit negativen Gedanken beschäftigen. Aber nur bis zum nächsten Erfolg.

Gabriela Manser

Entscheidend ist: Wozu ist etwas gut?

Und nicht: Warum bin ich gescheitert? Allerdings erfordert dies eine fundierte Haltung – bei der Unternehmerin Gabriela Manser ist es der Glaube an eine Sinnhaftigkeit.

Lukas Bärfuss

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Alle Gespräche in einem Band

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