Nun gibt es ältere Menschen, die zwar solche Plaques im Gehirn haben, aber keinerlei Anzeichen von Alzheimer zeigen. Das würde bedeuten: Jeder mit Alzheimer hat Plaques, aber nicht alle mit Plaques haben Alzheimer.
Das ist genau eines der Probleme dieser Hypothese. Für die Hypothese spricht indes, dass Menschen, die genetisch bedingt mehr Plaques bilden, tatsächlich bereits im frühen Alter von 40 Jahren von Alzheimer betroffen sind. In Island wiederum gibt es Leute mit einer Gen-Mutation, die zu weniger Amyloid-Vorläuferproteinen führt – diese Menschen werden 100 Jahre alt und bekommen nie Alzheimer. Also: Das Abeta-Protein spielt eine bedeutende Rolle, erzählt aber nicht die ganze Geschichte.
Die Tauisten würden sagen: Klar, in dieser Geschichte fehlt ja auch das entscheidende Element. Welche Rolle spielt nach aktuellem Forschungsstand das Tau-Protein?
Im Gegensatz zu den amyloiden Plaques, die sich zwischen den Nervenzellen ansammeln, sind die Tau-Proteine innerhalb der Nervenzellen angesiedelt. Dort halten sie röhrenförmige Strukturen zusammen, in denen Nährstoffe für die Zelle transportiert werden. Bei der Alzheimer-Krankheit fallen die Tau-Proteine ab und bilden fadenartige, unauflösliche Tau-Fibrillen, die Röhren kollabieren. Aber auch hier gilt: Inwiefern diese Tau-Fibrillen im Detail zum Tod der Nervenzellen führen, wissen wir noch nicht.
Sind Sie selber ein Baptist oder ein Tauist?
Weder – noch. Als Wissenschaftler halte ich mich an die Fakten. Letztlich kann man solche Fragen nur durch Experimente lösen.
Wie müsste ein solches Experiment ausschauen?
Der Gold-Standard wäre zum Beispiel eine Studie, in welcher die Plaques zerstört werden und dann untersucht wird, ob der Patient wieder gesund wird. Insgesamt hat die pharmazeutische Industrie meiner Schätzung nach weltweit bisher über fünf Milliarden Dollar in solche Experimente investiert – aber wir haben immer noch keine überzeugenden Antworten.
Kann man sagen, dass die Alzheimer-Forschung noch in den Kinderschuhen steckt?
Ich würde eher sagen, dass die Erfolgsbilanz unterschiedlich gelesen werden kann. Einerseits wissen wir sehr viel über die Pathogenese, etwa, dass es zur Bildung von amyloiden Plaques und Tau-Fibrillen kommt. Andererseits sind das aber alles Befunde, die im Kern bereits von Alois Alzheimer, dem Erstbeschreiber der Erkrankung, entdeckt wurden – vor 110 Jahren schon.
Was genau ist denn so schwierig an der Entschlüsselung der Alzheimer-Krankheit?
Vorneweg: Diese Probleme hat man bei über 90 % aller Krankheiten. Die heutige Medizin kriegt bestimmte Krankheiten ausgezeichnet in den Griff, andere aber überhaupt nicht.
Alzheimer ist also wissenschaftlich gesehen kein Sonderfall.
Nein. Bei chronischen Erkrankungen insgesamt gibt es sehr selten bahnbrechende Erfolge. Das heisst aber nicht, dass wir still stehen – es braucht einfach Zeit. Von der Entdeckung eines pathogenetischen Prinzips bis zur Zulassung eines Medikaments kann es 20 bis 30 Jahre dauern.
Können Sie erklären, warum das so lange dauert? Nehmen wir an, Sie würden die fehlenden Beweise für den Einfluss der amyloiden Plaques auf den Tod der Nervenzellen finden …
... da muss ich schon kurz intervenieren: In der Wissenschaft ist nichts beweisbar. Sie können nur immer wieder falsifizieren, also widerlegen. In meinem Labor unterscheiden wir zwei Ansätze: Hypothesen entwickeln und Hypothesen testen.
Welche Hypothese testen Sie aktuell in Zusammenhang mit Alzheimer?
Kürzlich untersuchte eine unserer Gruppen zum Beispiel den Zusammenhang zwischen Abeta-Proteinen und Insulinresistenz. Ausgangspunkt dieser Studie war, dass Menschen mit einem metabolischen Syndrom – also mit hohem Blutdruck, Übergewicht, gestörter Glukose-Toleranz – häufiger Alzheimer-Demenz entwickeln. Vor diesem Hintergrund testeten wir vereinfacht gesagt folgende Hypothese: Wer eine gestörte Glukose-Toleranz hat, ist anfällig für Prionen, das sind proteinartige, infektiöse Partikel. Das Experiment wurde durchgeführt, die Hypothese wurde widerlegt. Jetzt können wir zur nächsten Hypothese übergehen.
Und wenn eine Hypothese bestätigt werden kann?
Wenn wir etwas Spannendes finden, dann verbringen wir die nächsten sechs Monate damit, Experimente zu entwickeln, mit denen wir diese Hypothese widerlegen könnten.
Ist das nicht ernüchternd?
So funktioniert Wissenschaft! Und wir stagnieren ja nicht, es gibt aufregende Entwicklungen.
Ihre Augen funkeln. Gibt es neue Geheimkandidaten?
Ja, die gibt es – aber die sind eben geheim … Erst publizieren wir in den Fachzeitschriften, dann gehen wir an die Öffentlichkeit damit.
Akzeptiert. Angenommen, Sie könnten eine zentrale Hypothese bestätigen und so das Wissen um die Pathogenese entscheidend erweitern. Der nächste Schritt bestünde dann in der Entwicklung eines Medikaments. Nun wurden in den letzten 15 Jahren weltweit mehr als 150 Alzheimer-Medikamente getestet – die Wunderpille war aber nicht darunter.
Es wird auch nicht die eine Wunderpille geben. Ich vermute, dass man vielmehr verschiedene Schlüsselfaktoren der Pathogenese gleichzeitig angreifen muss: das Tau-Protein, das Abeta-Protein, aber auch die Vorläufer-Proteine.
Besteht das Ziel darin, die amyloiden Plaques oder die Tau-Fibrillen gar nicht erst entstehen zu lassen – oder diese zu zerstören?
Sehen Sie, das Problem ist, dass diese Therapien alle sehr einschneidend sind. Es müssen Antikörper injiziert werden – das ist weitaus belastender, als wenn Sie einfach ein Mal pro Woche eine Pille einnehmen. Auch können Nebenwirkungen auftreten. Deshalb kann man die Patienten nicht behandeln, bevor sie krank sind. Gleichzeitig wissen wir aber, dass sich die Krankheit schon zwanzig Jahre vor den ersten klinischen Symptome im Gehirn ausbreitet. Bisher hat man immer erst dann medikamentös eingegriffen, wenn die Leute bereits eine Alzheimer-Demenz hatten – sind aber die Nervenzellen bereits degeneriert, dann kommt die Therapie zu spät. Das ist ein Dilemma.
Nun haben Sie bereits drei hohe Hürden genannt, die nachvollziehbar machen, warum die Fortschritte so lange auf sich warten lassen: die Entschlüsselung der Pathogenese, die Entwicklung eines darauf beruhenden Medikaments und die Durchführung einer Studie, die höchsten ethischen Standards entspricht.
Und die nächste Hürde kommt bereits: die Laufzeit der Studie. Wenn Sie ein Medikament gegen eine schwere bakterielle Erkrankung einsetzen, dann behandeln Sie Ihre Patienten drei Tage lang und wissen dann, ob es besser geht oder nicht. Geht es um einen Hirnkrebs mit einer Überlebenszeit von etwa sechs Monaten, dann haben Sie Ihre Antwort nach sechs Monaten. Bei Alzheimer braucht es fünf bis zehn Jahre.
Und Zeit ist Geld – noch eine Hürde.
Die Kosten für solche Studien können schnell einmal mehrere hundert Millionen Franken betragen, ja. Das alles sind Limitationen, die man sich vor Augen führen muss.
Das Hauptthema dieser Gesprächsreihe lautet ja: Wie lässt sich Alzheimer verhindern? Nun sagen Sie zusammengefasst, dass die Ursachen dieser Krankheit noch weitgehend unklar sind – zumindest, was das Endstadium betrifft. Lässt sich trotzdem sagen, ob die Krankheit verhindert werden kann?
Ja. Ein Drittel aller Menschen, die 85 oder älter werden, bekommen eine Alzheimer-Demenz – zwei Drittel aber nicht! Eine Alzheimer-Demenz ist also keine unabwendbare Folge des Alterns. Alzheimer ist eine Krankheit. Und Krankheiten lassen sich verhindern. Nun wissen wir zwar noch nicht, wie die Endphase der Krankheit im Detail verläuft, aber wir kennen die grobkörnigen Vorstufen und Risikofaktoren.
Woran denken Sie?
Wie erwähnt gibt es einen epidemiologischen Zusammenhang zwischen dem metabolischen Syndrom und Alzheimer. Wenn Sie Bluthochdruck, Übergewicht und Bewegungsmangel vermeiden, tun Sie deshalb schon einiges zur Prävention von Alzheimer. Sie können zwar nicht mit Sicherheit ausschliessen, dass Sie dadurch erkranken, aber die Wahrscheinlichkeit deutlich senken. Das liegt ganz in Ihren Händen.
Warum ist Bewegung so wichtig?
Wenn Sie zwei Stunden laufen gehen, schüttet Ihr Gehirn Substanzen aus, die neuro-protektiv sind. Ein Wochenplan, der regelmässigen Ausdauersport beinhaltet, ist deshalb im Sinne der Alzheimer-Prävention schon mal vorteilhaft.
Von einer Heilung sprechen Sie aber nicht – nicht einmal im Frühstadium?
Prinzipiell gilt: Wenn es eine Krankheit ist, dann muss es auch möglich sein, sie zu therapieren. Selbst wenn wir das heute nicht können, bin ich überzeugt, dass wir es eines Tages können werden.
Wir können es heute bereits – bei Patienten im frühen Stadium. Das ist zumindest die These des deutschen Molekulargenetikers Michael Nehls, meinem nächsten Gesprächspartner. Sie runzeln die Stirn.
Das will ich zuerst sehen. Schwarz auf weiss.
Er bezieht sich beispielsweise auf eine Interventionsstudie, die kürzlich durchgeführt wurde.
Man muss die wissenschaftlichen Fakten immer sehr genau prüfen. Selbst wenn Sie ein bestimmtes Programm durchführen und nachweisen könnten, dass es den Patienten nachher tatsächlich besser geht, haben Sie das Rätsel nicht gelöst. Vielmehr taucht dann eine neue wichtige Frage auf: Warum genau geht es ihnen besser? Gerade bei solchen Befunden muss man als Wissenschaftler immer sehr skeptisch und selbstkritisch sein.