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Leo Pruimboom

Entscheidend ist: Welchen Sinn hat Alzheimer?

Und zwar nicht für Sie und mich, sondern in der Entwicklung der Menschheit. Die Antwort des Physiologen Leo Pruimboom in Kurzform: Alzheimer sei «evolution in a nutshell».

Herr Pruimboom, es ist verwirrend: Die einen sagen, die Alzheimer-Forschung stecke noch in den Kinderschuhen, andere dagegen meinen, man wisse ziemlich gut, wie die Krankheit entsteht. Wer hat recht?
Das grösste Problem der Alzheimer-Forschung liegt darin, dass die falsche Frage gestellt wird. Man sucht nach Beta-Amyloid und Tau-Proteinen, aber kaum darüber hinaus. Es gibt viel zu viel Foto-Medizin und viel zu wenig Film-Medizin.

Wie meinen Sie das?
Bei den meisten Studien lautet die Frage: Wie entsteht Alzheimer? Die entscheidende Frage lautet für mich aber: Wozu gibt es überhaupt Alzheimer beim Menschen? Man muss sich dieser Frage evolutionär nähern.

Die Wozu-Frage beinhaltet immer, dass etwas einen Sinn hat. Hat Alzheimer also Ihrer Meinung nach einen Sinn?
Alzheimer muss einen Sinn haben. Nicht für den einzelnen Betroffenen im Hier und Jetzt, sondern in der Menschheitsgeschichte. Der Alzheimer-Film beginnt nicht vor 5 oder 50 Jahren, sondern bereits vor 50’000 Jahren.

Welchen Titel würden Sie diesem Alzheimer-Film geben?
Lassen Sie mich kurz überlegen ... «Evolution in a nutshell». Alzheimer müsste evolutionär gesehen werden als Art und Weise des Überlebens, wenn im Gehirn Energie fehlt.

Das ist die Grundidee?
Ja. Das Gehirn nimmt 20 Prozent unseres Energieverbrauchs in Anspruch und ist damit ein enormer Ressourcenfresser. Interessanterweise entwickeln Tiere, die überwintern, ein regelrechtes Alzheimer-Gehirn. Das sehen Sie bei Fledermäusen, Bären, Polarfüchsen. Sobald sie aber aus ihrem Torpor kommen, werden zwei Moleküle im Gehirn aktiviert – und innerhalb von 24 Stunden ist ihr Gehirn wieder voll funktionsfähig. Uns hingegen fehlt diese Fähigkeit.

Was bedeutet das übertragen auf den Menschen mit Alzheimer?
Wenn die Energie knapp wird oder wir in Gefahr sind, wird die Energie dorthin transportiert, wo sie für das Überleben am dringendsten gebraucht wird. An anderen Stellen hingegen muss sie eingespart werden. Dies ist bei Alzheimer der Fall: Weil die notwendige Energie fehlt, werden die teuersten Gebiete entlastet: der präfrontale Cortex und der Hippocampus.

Wohin wird die Energie transportiert, die im Gehirn fehlt?
Ins Immunsystem. Wenn das Immunsystem nun langfristig aktiv bleibt und so permanent viel geklaut Energie klaut, hat das Gehirn fürs Erste den Kampf um diese Energie vorerst verloren. Mit anderen Worten: Alzheimer ist eine immunologische Herausforderung.

Die Psychoneuroimmunologie, Ihr Fachgebiet, beschäftigt sich mit dem Einfluss des Immunsystems auf das Gehirn. Warum hat das Gehirn diesen Kampf gegen das Immunsystem verloren?
Das ist die zentrale Frage. Wie gesagt: Man muss evolutionär denken. Der präfrontale Cortex und der Hippocampus hängen eng mit der menschlichen Intelligenz zusammen. Intelligenz war notwendig, um zu überleben. Beim Homo sapiens sapiens vor 50’000 Jahren gab es sechs Todesursachen: Hunger, Durst, Kälte, Hitze, Gewalt und Infektionen. Diese Gefahren sind seit rund hundert Jahren weitgehend verschwunden – und somit auch die Bedeutung des präfrontalen Cortex und des Hippocampus.

Sie sprechen jetzt von Industrieländern – also genau jenen Ländern, in denen Alzheimer weit verbreitet ist.
Genau. Haben wir noch Hunger? Nein. Mit dem Übergang zum Ackerbau hat der Mensch das Nahrungsproblem zum grossen Teil gelöst. Die Nahrung ist steril geworden, wir haben einen Kühlschrank. Haben wir noch Durst? Nein, wir haben ein gut funktionierendes sanitäres System. Leiden wir noch unter Kälte? Müssen wir nicht mehr, wir leben in Häusern mit Zentralheizung. Leiden wir unter Hitze? Nein – wir haben Air-Conditioning. Was ist mit Gewalt? Wir leben in der friedlichsten Periode aller Zeiten. Die modernen Kriege werden mit Drohnen geführt, die ohne Bemannung angreifen können. Und schliesslich: Besteht noch die Gefahr von tödlichen Infektionen? Kaum. Wir haben Antibiotika, die Hygiene hat sich unglaublich verbessert.

Was bedeutet das aus der Sicht der Psychoneuroimmunologie?
Es gibt an der Aussenseite des Körpers keine Wunde mehr. Das Einzige, was die Menschen in den letzten fünfzig Jahren noch bewältigen mussten, ist kognitiver Druck. Und nun haben wir auch hier den letzten Schritt gemacht und so den präfrontalen Cortex entmachtet, indem wir Maschinen, Rechner und Technologien wie GPS benutzen.

Dieser Trend wird sich noch verstärken: Wir sind mitten in einer Epoche der Automatisierung und Digitalisierung.
Meines Erachtens ist das der letzte Tropfen, der zur Alzheimer-Epidemie geführt hat.

Ich kann nachvollziehen, dass diese Herausforderungen für das Gehirn im heutigen Lebensalltag fehlen. Was ich noch nicht verstehe: Warum geht die Energie ins Immunsystem, wenn es doch keine äusseren Wunden mehr gibt?
Der Grund für die chronische Aktivität des Immunsystems sind kleinste Entzündungen im Körperinnern. Auch im Gehirn, die sogenannte Neuroinflammation. Das ist das grösste Problem.

Wie kommt es zur Neuroinflammation?
In den Alzheimer-Plaques finden sich zahlreiche Viren und Bakterien. Diese Pathogene haben sich das immun-toleranteste Gewebe ausgesucht, um zu überleben: das Gehirn. Dazu mussten sie allerdings zuerst die Blut-Hirn-Schranke durchdringen, was ja sehr aussergewöhnlich ist. Ihr Trick: Sie haben trojanische Pferde benutzt, also Substanzen, die vom Immunsystem nicht erkannt werden – die sind zum Beispiel im Fleisch von Vierbeinern oder im Mais enthalten. Erst die Immunzellen im Gehirn, die Mikroglia, schlagen dann Alarm. Die Folge: eine chronische Neuroinflammation.

Was passiert dann?
Die Immunzellen versuchen mit aller Energie, diese kleinsten Entzündungen im Gehirn zu löschen. Weil sie dabei über-aktiv sind, können sie eine ihrer zentralen Aufgaben nicht mehr wahrnehmen: das angehäufte Beta-Amyloid zu entfernen. Mit der Zeit verklumpt dies zu amyloiden Plaques.

Nun geht es in dieser Gesprächsreihe um die Frage: Was kann man tun, um Alzheimer zu verhindern? Der Molekulargenetiker Michael Nehls ist überzeugt: Alzheimer ist eine Mangelkrankheit – ein Mangel an Bewegung, artgerechter Ernährung, Schlaf, sozialer Aktivität.
Klar: Das sind vier Bereiche, die wichtig sind für die Prävention. Wir sitzen zu viel, haben trojanische Pferde in der Nahrung, schlafen zu wenig und haben unser Gedächtnis ausgelagert. Das sind die modernen Risikofaktoren – viel schwerwiegender ist aber die Abwesenheit von mild ancient stressors, also leichten Stressoren von früher.

Wie meinen Sie das?
Dauerhafter Stress überfordert unseren Organismus. Kurzer Stress hingegen ist sinnvoll. Er aktiviert das Immunsystem und trainiert es für spätere Einsätze. Es gibt es im südlichen Afrika einen Stamm von Urbewohnern, die San-Buschmänner, bei denen die Frequenz des ApoE4-Gens doppelt so hoch ist wie bei uns. Diese Genvariante gilt als starker Risikofaktor für Alzheimer. Aber die San-Buschmänner erkranken nicht, weil sie artgerecht leben.

Der Titel des Films lautet ja «Evolution in a nutshell». Wenn wir den Film ganz zurückspulen: Müsste man wieder so leben wie in der Steinzeit, um Alzheimer zu vermeiden? Sie selber gehen hin und wieder mit Gruppen 7 bis 10 Tage in die Wildnis der Pyrenäen, schlafen im Freien, jagen Kaninchen und essen Schnecken.
Nein, dafür sind wir überhaupt nicht mehr geeignet. Wir müssen uns nicht mehr acht Stunden pro Tag bewegen. Wir müssen keine nicht-sterile Nahrung mehr essen. Und wir sollten auch nicht draussen übernachten – denn dort schläft man nicht, weil man aufmerksam sein muss. Das paläolithische Leben war sehr heftig. Wir romantisieren das immer und tun so, als ob es das beste Leben war, das wir jemals hatten. Das ist Blödsinn. Die durchschnittliche Lebenserwartung lag bei 49 Jahren! Nein, besser ist es, ein paar Sachen davon in den heutigen Alltag einbauen und das Gehirn wieder zur Nummer eins machen.

Was schlagen Sie konkret vor?
Intermittierendes Leben. So kann Alzheimer verhindert werden.

Was ist das?
Wenn wir intermittierend leben, stellen wir die frühere Energieverteilung her und machen das Gehirn wieder zur Nummer eins. Am besten lässt sich das anhand der sechs Todesursachen in der Steinzeit demonstrieren. Die Grundidee besteht darin, sich diesen Herausforderungen immer wieder kurz auszusetzen.

Gehen wir sie der Reihe nach durch. Erstens: Hunger.
Hier geht es nicht ums Fasten, also darum, nichts zu essen, sondern um intermittierendes Fasten: Man isst zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Zeitabständen. Damit wird das Gehirn repariert, indem der präfrontale Cortex und der Hippocampus mit der Zeit wieder die Fähigkeit erlangen, Glucose aufzunehmen.

Zweitens: Durst.
Wir sollten nur trinken, wenn wir wirklich Durst haben – und zwar so viel, bis wir genug haben. Ganz einfach.

Drittens: Kälte.
Extreme Kälte reduziert die Entzündung des Gehirns. Minus 18 Grad, zwei Minuten lang. Man braucht nicht fünf Stunden in der Kälte zu stehen – zwei Minuten reichen. Im Hochsommer kann man eine Kältekabine oder ein Eisbad benutzen. Das ist wieder einer der Reize von damals. 1 x pro Tag, 5 x pro Woche.

Viertens: Hitze.
Herzkreislaufkrankheiten und Neurodegeneration werden signifikant verringert, wenn man 2x pro Woche 15 Minuten in die Sauna geht.

Fünftens: Gewalt.
Bisschen raufen, boxen, kriechen, auf einen Baum klettern … Ein weiteres Beispiel ist die intermittierende Hypoxie, also ein vorübergehender Sauerstoffmangel. So kann man 1 x pro Tag etwa drei Minuten lang eine Übung machen, etwa ein paar Liegestütze, mit der wir eine akute Sauerstoffnot auslösen. Alzheimer ist auch ein Mangel an Sauerstoff im Gehirn. Wenn ich das trainiere, dann wird das Gehirn tolerant gegenüber Zuständen der Minderdurchblutung.

Sechstens: Infektionen.
Es wäre gut, hin und wieder kleine Gefahren an den Aussenseiten des Körpers zu erfahren. Ein Beispiel: In Japan wurde das sogenannte forrest bathoffiziell als Therapie gegen kardiovaskuläre Krankheitsbilder, Autoimmunkrankheiten, Krebs und Neurodegeneration anerkannt. Bäume strömen Phytonzide aus. Das sind Wirkstoffe, die zum Schutz der Pflanze hergestellt werden, um Schädlinge fernzuhalten. Sie wirken jedoch nicht nur abtötend, sondern auch lebensregulierend. Wenn wir im Wald spazieren gehen und diese Phytonzide das Gesicht erreichen, dann zieht das Immunsystem auf die Aussenseite des Körpers und die Neuroinflammation wird verringert.

Fehlen noch die intellektuelle Herausforderungen.
Ja, man sollte dafür sorgen, dass es wieder mehr kognitiven Druck gibt.

Wie machen Sie das persönlich?
Ich speichere zum Beispiel noch immer alle Telefonnummern in meinem Gedächtnis. Natürlich benutze ich alle modernen elektronischen Geräte, aber neue Nummern speichere ich zuerst in meinem Kopf und gebe sie erst später aus dem Gedächtnis ins Handy ein.

Ziel dieser Gesprächsreihe ist ja ein Wochenplan zur Prävention von Alzheimer. Wie muss man sich eine Woche vorstellen, die nach dem Konzept des intermittierenden Lebens abläuft?
Jeden Tag ein bisschen kalt haben, zwei Minuten reichen. Drei Mal pro Woche kurz in die Sauna gehen. Hin und wieder eine Mahlzeit auslassen. 1 – 2 Mal pro Woche Judo machen. Und neue Informationen so gut es geht im Gedächtnis speichern. Das reicht fürs Erste schon.

Wie lange dauert es, bis die Effekte sichtbar werden?
Zehn Tage. Bei unserer Studie in den Pyrenäen war aber gar nicht die Untersuchung selber am spannendsten, sondern die Monate danach: Die Menschen waren viel entscheidungsfähiger. Und wir reden von grossen Entscheidungen – den Beruf zu wechseln, familiäre Veränderungen vorzunehmen, den Lebensstil zu ändern. 22 von 138 Personen haben ihr Auto verkauft! Das ist viel interessanter.

Die Fragen.

Wie kann man Alzheimer verhindern?

Alzheimer ist nach der Frühphase nicht mehr heilbar. Doch was kann man tun, um dieser Krankheit vorzubeugen?

Adriano Aguzzi

Wir wissen nicht, warum die Nervenzellen sterben

Aber die Wissenschaft wird es eines Tages herausfinden. Sehr gut möglich, dass Adriano Aguzzi und sein Team am Universitätsspital dann federführend sind.

Michael Nehls

Alzheimer ist heute normal – aber nicht natürlich

Denn die Natur habe Alzheimer nicht vorgesehen. Deshalb könne man sie mit einer gehirngerechten Lebensweise auch verhindern, sagt der Wissenschaftler und Autor Michael Nehls.

Leo Pruimboom

Entscheidend ist: Welchen Sinn hat Alzheimer?

Und zwar nicht für Sie und mich, sondern in der Entwicklung der Menschheit. Die Antwort des Physiologen Leo Pruimboom in Kurzform: Alzheimer sei «evolution in a nutshell».

Mike Martin

Sie müssen das, was Sie tun, häufig variieren

Der Psychologe Mike Martin erklärt überdies, warum wir uns beim kognitiven Fitnesstraining am Polysportler orientieren sollten – und nicht am Bodybuilder.

Gerhard Roth

Wir ändern Gewohnheiten nur unter Leidensdruck

Der fehlt aber, wenn man von einer Krankheit wie Alzheimer noch gar nicht betroffen ist. Der Hirnforscher Gerhard Roth erklärt, wie man es trotzdem schafft, sich dauerhaft anders zu bewegen, zu ernähren, geistig zu beschäftigen.

Alle Gespräche in einem Band

Alzheimer ist nach der Frühphase nicht mehr heilbar. Doch was kann man tun, um dieser Krankheit vorzubeugen?