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Mike Martin

Sie müssen das, was Sie tun, häufig variieren

Der Psychologe Mike Martin erklärt überdies, warum wir uns beim kognitiven Fitnesstraining am Polysportler orientieren sollten – und nicht am Bodybuilder.

Herr Martin, Sie beschäftigen sich mit dem gesunden Altern. Was muss man tun, um geistig fit zu bleiben?
Zunächst einmal ist es wichtig, starke Stressfaktoren zu identifizieren. Schwere private Konflikte, ungelöste Probleme oder auch finanzielle Sorgen beeinträchtigen die Gedächtnisleistung beträchtlich. Wenn Sie diese Stressoren ausschalten, erzielen Sie bereits eine grosse Wirkung.

Das bezieht sich nun darauf, was man in seinem Alltag vermeiden sollte. Womit sollte man ihn anreichern?
Man kann das sicher nicht auf eine konkrete Tätigkeit herunterbrechen. Kreuzworträtsel lösen, reisen gehen, viel Sport treiben oder sich häufig mit anderen Menschen austauschen – das sind typische Aktivitäten, die in Ratgebern immer wieder vorkommen. Diese eine Tätigkeit, die uns alle gesund altern lässt, gibt es aber nicht.

Es mag nicht den einen Heilsbringer für alle Menschen geben. Aber vielleicht eine Reihe von Tätigkeiten, von denen man sagen könnte: Diese haben sich im Allgemeinen bewährt – und ich kann mir nun jene aussuchen, die am besten zu mir passen?
Das ist vorstellbar, aber noch fehlen uns dazu viele Daten.

Was brauchen Sie?
Ein guter Anfang wären mal die Aktivitätsmuster von mindestens 10’000 gesunden Personen über einen längeren Zeitraum. Dann könnten wir untersuchen, nach welchen individuellen Regeln die jeweilige Person ihre Aktivitäten gestaltethat – und ob wir daraus allgemeine Regeln herleiten können. Ein Hauptproblem dieser Forschungsrichtung ist allerdings: Ob bestimmte Aktivitäten gesund und sinnvoll sind, hängt immer vom Kontext ab.

Wie meinen Sie das?
Ich zeige Ihnen ein Beispiel. Auf diesem Blatt hier sehen Sie zunächst einmal einfach ganz viele Striche. Das sind die Daten eines gesunden Mannes, der seit 1982 einen Bewegungssensor am linken Handgelenk trägt. Wenn Sie ganz genau hinschauen könnten, würden Sie jeden Tag das Ausmass der Aktivität ablesen können. Das sind Bewegungsdaten für über dreissig Jahre! Nun kann man bestimmte Muster erkennen. So sieht man immer im Juli und August einen Bereich mit erhöhten körperlichen Aktivitäten – da ist er jeweils zum Bergwandern gegangen. An dieser Stelle hier sieht man sogar ein ganzes Halbjahr mit mehr körperlicher Aktivität – daran könnte man erkennen, dass es ein Professor ist, das war nämlich sein Sabbatical. Hier wiederum fällt ein markanter Wechsel im Tag-/Nacht-Rhythmus auf – in dieser Zeit war er in China. Man kann auch sehen, wann er pensioniert wurde: Während der Berufszeit gibt es klare Differenzen zwischen weniger Bewegung an den Wochentagen und mehr am Wochenende, seither ist das gleichmässig über alle Tage verteilt.

Das sind doch sehr viele Informationen – genau das, was Sie brauchen!
Das Problem besteht darin, diese Daten auszuwerten. Sehen wir uns kurz die Schlafdaten genauer an: Diese lagen über lange Jahre stabil bei 6 Stunden 20 Minuten. Plötzlich sank die Schlafdauer auf knapp 6 Stunden – das war, als er Dekan und später Prorektor der Universität wurde. Nach der Pensionierung ging die Schlafdauer wieder auf den ursprünglichen Wert zurück. Welche Schlafdauer würden Sie ihm im Hinblick auf gesundes geistiges Altern nun empfehlen: 6 Stunden oder 6 Stunden 20 Minuten?

Das hängt von den Umständen ab.
Genau. Diese Person hatte zwar eine Phase lang weniger Schlaf, aber auch einen unvorhersehbaren Tagesablauf und das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Ein anderes Beispiel: Wenn eine Person einen Namen nicht sagt, den sie kurz zuvor gehört hat, schneidet man im Labor beim Gedächtnistest schlecht ab. Im Alltag kann das aber durchaus Sinn machen, weil man vielleicht nicht will, dass andere diesen Namen hören. Ebenso kann eine Person, die ein zufälliges Bewegungsmuster hat, desorientiert sein – oder aber die Gegend erkunden. Das zeigt, dass der Blick auf das gesamte Aktivitätsmuster einer Person wichtig ist, um ihr Verhalten zu verstehen und sie beraten zu können.

Das leuchtet prinzipiell ein. Bei Menschen mit Alzheimer wäre es ja aber vorstellbar, dass sich in einem bestimmten Stadium ganz spezifische Gedächtnistrainings bewährt hätten.
Auch bei Alzheimer gilt: Man muss immer den Kontext berücksichtigen. Ein Beispiel: Jemand hat schon leichte Gedächtnisprobleme, aber keine Lust auf Gedächtnistraining. Er hat aber einen grossen Freundeskreis und viele soziale Beziehungen. Einer solchen Person muss ich etwas anderes empfehlen in Bezug auf die geistige Fitness als jemandem, der ein kleines soziales Netzwerk hat.

Und wenn die Person genau das ändern möchte – ihren Freundeskreis vergrössern, weil sie zum Beispiel grad pensioniert wurde?
Das ist ein zentraler Punkt. Gesundheit wird von der WHO seit kurzem neu definiert. Gesund ist, wenn es einer Person gelingt, ihre funktionalen Fähigkeiten aufrechtzuerhalten – im Wortlaut: «what people have reason to value». Die entscheidende Frage in Bezug auf gesundes kognitives Altern ist demnach: Kann ich mit dem, was mir kognitiv zur Verfügung steht, das erreichen, was mir im Alltag wichtig ist? Die eine Person gilt also dann als kognitiv gesund, wenn sie ein grosses soziales Netzwerk pflegen kann, die andere Person, wenn sie im Beruf erfolgreich ist.

Beides sind eher grosse Bereiche. Wenn ich Sie richtig verstehe, kann es aber auch um ganz kleine Dinge des Alltags gehen.
Wir haben eine Trainingsberatung 40+ aufgebaut, für Leute, die über Gedächtnisprobleme in ihrem Alltag klagen. Dort legt man dann gemeinsam fest: Was möchten Sie konkret erreichen? Eine Person kann dann sagen: Ich möchte die Namen der Mitglieder des Bridge-Clubs können, damit ich sie persönlich begrüssen kann. Das ist das konkrete Ziel. Eine andere Person möchte den Weg zum Auto zurück immer sicher finden.

Es ist nachvollziehbar, dass der Weg zum gesunden kognitiven Altern jeweils ganz individuell sein muss. Trotzdem: Kann man beschreiben, wie solche Aktivitäten vom Prinzip her aussehen sollten?
Es gibt tatsächlich einen interessanten Ansatzpunkt. In der Plastizitätsforschung wird gefragt: Was muss ich tun, um mein Gehirn zu verändern? Dann müssen Sie einfache Dinge häufig tun – also zum Beispiel immer wieder dasselbe Klavierstück üben. Wenn Sie aber mit Ihrem Gehirn zufrieden sind, dann stellt sich ja vielmehr die Frage: Was muss ich tun, damit es sich nicht ändert? Dafür müssen Sie das, was Sie tun, häufig variieren. Das verhindert die Spezialisierung an einer bestimmten Stelle. Dem Gewichtheber sieht man es auf den ersten Blick an – dem Polysportler nicht. Vermutlich ist das genau der Trick, der die Hirnstruktur stabilisiert.

Ich kann mir noch nichts darunter vorstellen, was es heisst, etwas zu variieren. Wie zeigt sich das konkret?
Anstatt nur Ihre angestammte Zeitung zu lesen, könnten Sie auch mal das Konkurrenzblatt zur Hand nehmen. Das zwingt Sie, ein Thema aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Oder Sie wechseln zwischen verschiedenen Knobelspielen ab, die Ihnen logisches Denken abfordern: Sudoku, Buchstabenrätsel und Puzzles. Der Idealfall ist natürlich, wenn Sie einen herausfordernden Job haben, interessante Leute treffen und ihre geistigen Fähigkeiten im Alltag so variabel wie möglich, in mehr oder weniger unvorhersehbarer Weise einsetzen können. Also eben nicht immer regelmässig dasselbe tun.

Angenommen, dieser Idealfall liege nicht vor, im Gegenteil: Der Alltag ist grau, wiederholt sich, scheint festgefahren. Nützt es schon was, wenn ich fortan beim Einkaufen den Weg variiere?
Nein.

Nützt es was, wenn ich viel reise?
Nicht zwingend. Leute können einen riesigen Bewegungsradius haben – besuchen aber jeweils dieselbe Niederlassung des Hotels. Sie sind also immer an verschiedenen Orten, machen jedoch immer dasselbe.

Die Person ist also wichtiger als der Ort.
Häufig besuchte Orte können sogar frei im Geiste machen. Die kreativsten Ideen, so behaupten manche zumindest, haben Sie im Büro, unter der Dusche oder auf dem Klo – also an Orten, wo Sie häufig sind. Kurt Lewin, ein berühmter Psychologe in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sagte: Der psychologische Lebensraum muss variabel sein, nicht die Umgebung.

Ich fasse zusammen: Um kognitiv gesund zu altern, sollte man Stressoren vermindern, sinnvolle Ziele verfolgen und das, was man tut, variieren. Nun ist das Ziel dieser Gesprächsreihe ja ein Wochenplan, um Alzheimer vorzubeugen. Wie könnte darin ein geistiges Fitnessprogramm exemplarisch ausschauen?
Das hängt wieder ganz von der Antwort auf die zentrale Frage ab: Was möchten Sie konkret erreichen?

Alzheimer verhindern – ich formuliere es mal bewusst allgemein.
Nehmen wir an, Sie würden tatsächlich die Wahrscheinlichkeit einer Alzheimer-Diagnose verringern, wenn Sie täglich drei Stunden eines Gedächtnistrainings absolvierten. Dann würden Sie also jeden Tag von 8 bis 11 Uhr damit verbringen, Ihr Gedächtnis zu trainieren. Jetzt gibt es aber noch viele andere Risikofaktoren. Von 11 bis 12 Uhr würden Sie dann konsequenterweise Ihrer sozialen Isolation entgegenkämpfen, von 12 bis 14 Uhr Ihrer möglichen Depression und so weiter – ich überzeichne es jetzt bewusst. Mein Punkt ist: Die meisten Leute wollen so ein Leben nicht führen. Wenn man sich nur auf die drohende Alzheimer-Demenz ausrichtet, vernachlässigt man andere Eigenschaften, die zu einem gelungenen Leben beitragen.

Sie sagten vorher, Ihr Ziel sei es, regelmässig neue Einsichten zu gewinnen und das Gefühl zu haben, Ihren Horizont zu erweitern. Nehmen wir an, eine Person mit genau diesem Ziel käme in die Beratung. Wie würden Sie vorgehen?
Wenn ich ein kognitives Profil von dieser Person erstellen müsste, dann gehörten Fragen dazu wie: Was ist Ihnen persönlich besonders wichtig in Bezug auf die kognitive Leistung? Wann haben Sie dieses Ziel zu 25, 50 oder 100 Prozent erreicht? Was glauben Sie selber, wie gut Ihre aktuellen Leistungen in Bereichen, die Ihnen wichtig sind, ausfallen? Haben Sie einen realistischen Leistungsanspruch? Wo gibt es Beeinträchtigungen? Was tun Sie tatsächlich? Wie regelmässig tun Sie das? Was wissen Sie darüber, was Sie tun? Was wollen Sie daran ändern? Was glauben Sie, in welchem Ausmass Sie es verändern können? Egal, wer jetzt gleich durch diese Tür kommt: Ich muss etwa 25 Antworten haben, und dann kann ich ihr massgeschneidert sagen, was sie tun kann, damit die geistige Fitness bei ihr erhalten bleibt – oder sogar besser wird. Ähnlich könnte man übrigens auch ein Ernährungs- oder ein Bewegungsprofil erstellen. Ich bin sicher: Jede Person lässt sich mit insgesamt etwa 50 Variablen erfassen, und auf dieser Grundlage kann ich dann individuelle Programme entwickeln.

Welche Frage ist für Sie am wichtigsten?
Entscheidend ist: Wollen Sie wirklich etwas an Ihrem Profil ändern?

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