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Gerhard Roth

Wir ändern Gewohnheiten nur unter Leidensdruck

Der fehlt aber, wenn man von einer Krankheit wie Alzheimer noch gar nicht betroffen ist. Der Hirnforscher Gerhard Roth erklärt, wie man es trotzdem schafft, sich dauerhaft anders zu bewegen, zu ernähren, geistig zu beschäftigen.

Herr Roth, eines Ihrer Bücher trägt den Untertitel: «Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern». Sind die Erkenntnisse über die Prävention von Alzheimer zwar interessant, aber letztlich wirkungslos?
Keineswegs. Man muss ja die Richtung kennen, die man einschlagen muss. Aber dann muss man auch losgehen. Wer sich ändern möchte, muss also zwei Hürden überspringen. Erstens: Die Umsetzung des Gehörten in die Einsicht. Das ist schon schwierig. Zweitens: Die Umsetzung der Einsicht in die Handlung. Das ist noch viel schwieriger.

Aber es ist möglich – wenn man diese zwei Hürden überspringt.
Lassen Sie uns das am besten grad konkret durchspielen. Was wäre eine Forderung aus den Gesprächen, die Sie bisher geführt haben?

Was immer wieder kommt: mehr Bewegung. Es würde beispielsweise schon helfen, im Alltag konsequent die Treppe zu benützen.
Das ist ein gutes Beispiel für die erste Hürde, also das Gehörte in eine echte Einsicht umzuwandeln. Treppe statt Lift – jeder, der das hört, würde dem grundsätzlich zustimmen. Aber nur ein Drittel der Leute bezieht solche Aussagen auf sich selber. Das sehen Sie etwa auch bei der Energiewende. Der Staat muss sich ändern, die Gesellschaft, die Mitmenschen – aber nicht ich selber.

Gehen wir davon aus, dass die Leser dieses Magazins diese erste Hürde übersprungen haben: Sie wollen ihr Verhalten ändern, um Alzheimer vorzubeugen. Nun stehen sie vor der zweiten Hürde: der Umsetzung der Einsicht in die Handlung. Warum ist das so schwierig?
Weil der bewusste Wille, der zum Beispiel «Treppe statt Lift» sagt, kaum Zugriff auf unsere Handlungssteuerung hat. Ein bewusster Willensentschluss wird vielmehr nur dann umgesetzt, wenn unser Unbewusstes Ja dazu sagt.

Unser Unbewusstes hat das letzte Wort, wenn es um die Alzheimer-Prävention geht?
Ohne Zweifel. Es gibt viele Motive, die uns gar nicht bewusst sind, aber im wahrsten Sinne tief im Gehirn schlummern – intuitiv oder gar gänzlich unbewusst. Diese Motive werden über unser Erfahrungsgedächtnis abgefragt: Soll wirklich getan werden, was im Bewussten verlangt wird? Ist es sinnvoll angesichts meiner Gewohnheiten, meiner Automatismen und meiner tief verankerten Persönlichkeit, dieses und jenes zu tun? Wenn die Antwort nicht ein ganz klares Ja ist, vergessen wir das Anliegen, verschieben es, erfinden Ausreden.

Und bleiben auf dem alten Kurs.
Man kann sich unsere Gewohnheiten wie einen schweren Frachter vorstellen: Steuern kann man diesen auf dem Deck oben, aber um ihn längerfristig in eine andere Richtung zu bewegen, muss vom Maschinenraum unten Schub kommen.

Wie bekommt man diese Energie in den Maschinenraum?
Der erste Schritt besteht darin, sich selber Druck zu machen. Wir ändern Gewohnheiten – zum Beispiel den Lift zu nehmen, Zucker in den Kaffee zu tun, bis spätabends am Computer zu sitzen – häufig erst dann, wenn ein starker, unmittelbarer Leidensdruck herrscht. Auf norddeutsch sagt man: «Wenn einem der Schiet bis zum Hals steht.»

Gerade das ist bei der Prävention allerdings schwierig, denn man hat ja eben noch keinen akuten Leidensdruck.
Aber Sie können bestimmte Bedrohungsszenarien entwickeln. Wie schrecklich Alzheimer ist. Im Bereich der Prävention kann man auch gut mit sozialem Druck arbeiten. Teilen Sie öffentlich mit, dass Sie fortan nur noch die Treppe benutzen wollen. Es kann auch ein Bedrohungsszenario sein, die Partnerin im Lift sagen zu hören: «Du müsstest dich eigentlich schämen, du hast doch gesagt, ab jetzt den Lift links liegen zu lassen.» Auch wenn dies mit einem Augenzwinkern geäussert wird. Viel besser ist jedoch die tatkräftige Unterstützung: Die Partnerin steuert bewusst die Treppe an, während ich zum Lift abbiegen will. Wenn kein permanenter innerer oder äusserer Druck da ist, passiert das Phänomen der Energiewende: Unmittelbar nach Fukushima hatten alle Angst, nach ein paar Wochen hingegen war alles wieder vergessen.

Warum reicht ein einzelnes Ereignis nicht aus?
Weil auf dem Weg zur langfristigen Verhaltensänderung etwas ganz Entscheidendes fehlt: das Erfolgserlebnis. Das ist der zweite Schritt: kleine Veränderungen der Gewohnheiten vornehmen und diese konsequent belohnen. Unser Gehirn hat eine ständige Belohnungserwartung.

Selbst dann nicht, wenn die grösstmögliche Belohnung auf dem Spiel steht – ein gesundes, längeres Leben?
Selbst dann nicht. Das Unbewusste hat überhaupt kein explizites Zukunftskonzept. Wichtig ist, was im Moment ist – was in ein paar Jahren ist, spielt kaum eine Rolle. Die Zukunft ist erst einmal ein rein kognitives Konzept. Dinge wirken umso schwächer, je weiter sie in die Zukunft reichen. Das verläuft negativ exponentiell: Heute ist gut, morgen schon weniger, nächste Woche schlechter und nächstes Jahr ganz schlecht. Kognitiv wissen wir es – emotional aber berührt es uns nicht.

Was bräuchten wir stattdessen?
Unser unbewusstes, limbische System ist wie ein kleines Kind, dem man sagt: «Nun warte mal ab bis Weihnachten.» Kleinkinder wissen aber nicht, was vier Monate sind – die unteren limbischen Strukturen, in denen die unbewussten Motive verankert sind, auch nicht. Ich muss sofort spüren, dass das einen Effekt hatte.

Wenn ich die Treppen hinaufgestiegen bin ...
... sollte ich unmittelbar danach belohnt werden. Idealerweise müsste man ein Gerät benutzen, das mir anschaulich zeigt, wie viel Lebenszeit in Minuten und Stunden ich gewonnen habe, wenn ich eine Treppe gestiegen bin. Dann sehe ich: «Ah, heute Donnerstag habe ich meine Lebenszeit um eine halbe Stunde verlängert. Jetzt möchte ich mal sehen, ob ich das morgen Freitag noch übertreffen kann.» Man bräuchte in solchen Momenten also ein Gerät, der mir jederzeit so was anzeigt wie: «Bis jetzt hast du dein Leben um 120 Tage verlängert.»

Mit intelligenten Armbändern können wir das heute problemlos tun. Wenn jetzt aber da steht: «Bis jetzt hast du dein Leben um 120 Tage verlängert», dann berührt mich das doch emotional überhaupt nicht.
Doch, weil es eine unmittelbare Belohnung ist. Aber ich gebe Ihnen recht: Noch besser wäre es, starke Bilder hervorrufen – so wie Menschen viel mehr spenden, wenn sie notleidende Kinder sehen. Bilder gehen tief ins Gehirn in die limbischen Strukturen rein.

Sind die unteren limbischen Strukturen mehr beeindruckt durch positive oder negative Szenarien, also Hoffnung auf Erfolg oder Furcht vor Misserfolg?
Wenn Sie lediglich ermahnt werden, ist die Belohnungserwartung in aller Regel zu dünn. Man muss beides kombinieren. Zuerst die schlechte Nachricht: «Wenn Sie so weiterleben, werden Sie nicht älter als 70 Jahre.» Dann aber die gute Nachricht: «Aber ich kann genau sagen, was Sie tun können, um Ihr Leben zu verlängern.»

Ich fasse zusammen. Erstens: inneren und äusseren Druck aufbauen. Zweitens: kleine Schritte mit sofortigen Belohnungen.
Es fehlt noch der dritte Schritt: Wir müssen dieses Verhalten automatisieren, damit wir nicht immer wieder grosse Widerstände überwinden müssen. Das ist ganz wichtig. Beispiel: Kürzlich hat mir ein Kollege erzählt, er sage einen Patienten: «Während dem Zähneputzen machen Sie zehn Kniebeugen.» Das ist ein Trick: Ein neues Ritual mit einem alten Ritual kombinieren. Mit der Zeit wird das automatisiert.

Wie lange dauert es, bis man eine Gewohnheit verändert hat? Viele Leute geben nach drei Tagen auf.
Mindestens drei Wochen, wenn nicht gar drei Monate oder drei Jahre – je nachdem, wie hartnäckig die Gewohnheit ist. Die Herausforderung besteht darin, dass Gewohnheiten, die tief in den Basalganglien verankert sind, durch schnelle Belohnungen und langsames Eingewöhnen verändert werden. Das fällt ja graduell immer leichter, bis die Freude grösser ist als die Mühsal.

Bei der Ernährung haben wir das Problem, dass häufig gerade die Esswaren, auf die wir verzichten müssten, einen starken und akuten Belohnungscharakter haben.
Hier sind die kleinen Schritte ganz wichtig. Ich selber habe mir zum Beispiel ganz mühsam den Zucker im Kaffee abgewöhnt, indem ich über Wochen und Monate hinweg immer ein bisschen weniger genommen habe. Man muss das ganz langsam rausschleichen. Und schliesslich muss man diese neue Gewohnheit wieder so lange automatisieren, bis man zum Obst greift ohne sich überwinden zu müssen. Zum andern: Die räumliche Distanz vergrössern, um an die Zuckerdose ranzukommen. Bequemlichkeit ist eine starke Kraft.

Das sieht man auch bei einem anderen Bereich der Prävention, der kognitiven Anregung. Der Psychologe Mike Martin hat gesagt, man müsse das, was man tue, häufig variieren.
Das sehe ich auch so. Automatisieren bedeutet ja nicht, immer das Gleiche zu tun. Es bringt wenig, immer nur dieselbe Art von Kreuzworträtsel zu lösen. Chinesisch lernen ist schon mal viel besser. Oder sich schwierigen philosophischen Fragen widmen. Bei mir ist es Klavierspielen – wenn es geht, übe ich das täglich zwei Stunden.

Wie so oft: Es klingt völlig nachvollziehbar, und trotzdem machen es die wenigsten.
Sehen Sie, unser Gehirn versucht ja, Dinge möglichst billig zu kriegen. Nachzudenken ist in Wirklichkeit kein kognitiver, sondern ein motivationaler Aufwand. Die Zellen, auf die es da ankommt, müssen motivational durch Noradrenalin und Acetylcholin betrieben werden. Ich musste kürzlich einen Aufsatz zur Hirnevolution schreiben und dafür die Literatur der letzten drei Jahre nochmals durcharbeiten, das waren etwa sechzig Artikel. Da gibt es einen Kampf zwischen Bequemlichkeit («Kenne ich doch alles schon», «merkt doch keiner») und Neugier («vielleicht doch was Neues»). Das hält das Gehirn wach, macht seine Fitness aus. Es geht nicht so sehr um den kognitiven, sondern um den motivationalen Aufwand.

Gemäss Michael Nehls sind Bewegung, Ernährung, Schlaf und geistige Aktivität vier wichtige Bereiche für die Alzheimer-Prävention. Wo haben wir die besten Chancen, etwas zu verändern?
Beim Schlaf bin ich mir nicht ganz sicher, weil dieser sehr individuell und hochgradig genetisch bedingt ist und vom Hypothalamus gesteuert wird. Ich stehe um 7 Uhr auf. Bis um 9 Uhr im Bett zu liegen, hat für mich keinen Belohnungswert. Umgekehrt hat es für meine Frau, die Langschläferin ist, keinen Belohnungswert, wenn sie früher ins Bett gehen soll.

Am Schlaf selber können wir nichts ändern – aber vielleicht an der Schlafqualität? Nun sind wir es uns aber gewöhnt, am Abend von elektronischen Geräten umgeben zu sein. Was könnte man da tun?
Das ist sehr schwierig. Gut wäre eine Alternative: Ich selber lese zum Beispiel sehr häufig. Grad für die Alzheimer-Prävention wäre das sehr wichtig, weil das dieselben Zellen sind, die im Hippocampus involviert sind.

Bei der Bewegung, Ernährung und geistigen Anregung sehen Sie mehr Potential.
Ja, die sind gleichwertig.

Ziel der Gesprächsreihe ist ein Wochenplan. Womit würden Sie beginnen, um die Einstiegshürde so tief wie möglich zu halten?
Ich würde grad parallel mit den drei Gebieten beginnen: Bewegung, Ernährung und Anregung. Warum? Wenn ich mich viel bewege, bin ich hungrig. Wenn ich hungrig bin, versuche ich mir Varianten auszudenken, wie ich mir vermehrt Obst schmackhaft machen kann. Das wiederum kann ich gut während des Laufens tun. Und belohnen! Am Anfang täglich, dann vielleicht am Ende der Woche.

Die Fragen.

Wie kann man Alzheimer verhindern?

Alzheimer ist nach der Frühphase nicht mehr heilbar. Doch was kann man tun, um dieser Krankheit vorzubeugen?

Adriano Aguzzi

Wir wissen nicht, warum die Nervenzellen sterben

Aber die Wissenschaft wird es eines Tages herausfinden. Sehr gut möglich, dass Adriano Aguzzi und sein Team am Universitätsspital dann federführend sind.

Michael Nehls

Alzheimer ist heute normal – aber nicht natürlich

Denn die Natur habe Alzheimer nicht vorgesehen. Deshalb könne man sie mit einer gehirngerechten Lebensweise auch verhindern, sagt der Wissenschaftler und Autor Michael Nehls.

Leo Pruimboom

Entscheidend ist: Welchen Sinn hat Alzheimer?

Und zwar nicht für Sie und mich, sondern in der Entwicklung der Menschheit. Die Antwort des Physiologen Leo Pruimboom in Kurzform: Alzheimer sei «evolution in a nutshell».

Mike Martin

Sie müssen das, was Sie tun, häufig variieren

Der Psychologe Mike Martin erklärt überdies, warum wir uns beim kognitiven Fitnesstraining am Polysportler orientieren sollten – und nicht am Bodybuilder.

Gerhard Roth

Wir ändern Gewohnheiten nur unter Leidensdruck

Der fehlt aber, wenn man von einer Krankheit wie Alzheimer noch gar nicht betroffen ist. Der Hirnforscher Gerhard Roth erklärt, wie man es trotzdem schafft, sich dauerhaft anders zu bewegen, zu ernähren, geistig zu beschäftigen.

Alle Gespräche in einem Band

Alzheimer ist nach der Frühphase nicht mehr heilbar. Doch was kann man tun, um dieser Krankheit vorzubeugen?