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Michael Nehls

Alzheimer ist heute normal – aber nicht natürlich

Denn die Natur habe Alzheimer nicht vorgesehen. Deshalb könne man sie mit einer gehirngerechten Lebensweise auch verhindern, sagt der Wissenschaftler und Autor Michael Nehls.

Herr Nehls, Ihr aktuelles Buch trägt den Titel «Alzheimer ist heilbar». Ist Alzheimer tatsächlich immer heilbar – ohne Wenn und Aber?
Nein. Es hängt entscheidend davon ab, in welchem Stadium jemand ist. Klassischerweise unterteilt man Alzheimer in ein frühes, mittleres und spätes Stadium. Alzheimer im Frühstadium halte ich noch für therapierbar – vorausgesetzt, der Patient zeigt eine hohe Bereitschaft zur aktiven Mitwirkung. 

Ich habe einen kurzen Fragebogen mit drei Fragen vorbereitet, um Ihre Position besser einschätzen zu können. Frage 1 lautet also: Ist Alzheimer heilbar – von 0 bis 10?
1. Weil es diesen Point of no Return gibt, wenn die Erkrankung bereits über das Frühstadium hinaus ist. Das Buch hat deshalb auch den Untertitel «Rechtzeitig zurück in ein gesundes Leben».

Frage 2 ist: Kann man Alzheimer verhindern – wieder von 0 bis 10?
Ob man Alzheimer komplett verhindern kann, weiss ich nicht. Sicher aber kann man erste Anzeichen wie Gedächtnisstörungen und Stimmungsschwankungen stark hinauszögern – und da man nicht unendlich alt wird, ist dann die Wahrscheinlichkeit kleiner, spätere Alzheimer-Stadien zu erleben. Also 9. Entscheidend ist: Die Natur hat Alzheimer nicht vorgesehen.

Man könnte aber genau diesen Eindruck bekommen. Heute schon sind weltweit 46 Millionen Menschen betroffen, das entspricht der Einwohnerzahl Spaniens. Im Jahr 2050 werden es dann laut der WHO bereits über doppelt so viele sein ...
... wenn man nichts dagegen unternimmt. Diese Zahlen sagen aber vor allem eines: Alzheimer ist heute normal. Das heisst jedoch nicht, dass es natürlich ist! Schauen Sie sich zum Beispiel die Leute auf der japanischen Insel Okinawa an. Nur ein Bruchteil der über 90-Jährigen ist dort an Alzheimer erkrankt – bei uns ist es jeder Dritte. Das hat mit ihrem Lebensstil zu tun: Der durchschnittliche Bewohner ist Hobbygärtner, geht viel zu Fuss, macht Tai-Chi-Chuan – eine Art Schattenboxen –, isst häufig Fisch und ernährt sich nach dem Prinzip Hara-Hachi-Bu, hört also auf zu essen, wenn er zu 80 % satt ist.

Vorbildlich!
Ja, seit aber mit der Einrichtung eines Militärstützpunktes der US-amerikanische Lebensstil Einzug gehalten hat, nehmen die Zivilisationskrankheiten auch dort sprunghaft zu.

Ihrer Meinung nach ist Alzheimer also durchaus eine zwingende Folge – aber nicht des Alters, sondern der Lebensweise?
Weil sie nicht gehirngerecht ist, ja. Die Struktur des Gehirns hat sich seit hunderttausenden Jahren kaum verändert und passt nicht damit zusammen, wie wir uns heute bewegen, was wir essen oder wie lange wir schlafen.

Wenn sich das Gehirn nicht unserer Lebensweise anpasst, dann muss sich unsere Lebensweise dem Gehirn anpassen. Bedeutet das, dass wir wieder wie in der Steinzeit leben sollten?
Keineswegs. Wir müssen nur wissen, was unser Organismus benötigt, um gesund zu bleiben, und es ihm dann geben. Mehr ist nicht nötig. Wir müssen ja nicht jagen und sammeln, um uns zu bewegen oder um uns gesund zu ernähren.  Man muss also nicht 100’000 Jahre zurückgehen. 100 Jahre reichen schon. Noch vor wenigen Jahrzehnten gab es ja auch noch viel weniger Alzheimer-Diagnosen. Da hat sich etwas verändert in den letzten 100 Jahren – aber garantiert nicht in unserer Genetik.

Nun hat sich die Welt im 20. Jahrhundert allgemein stark verändert. Woran denken Sie konkret?
Auf dem Weg zu unserem Gespräch bin ich an der früheren Wohnung meiner Grosseltern vorbeigefahren. Sie mussten noch fünf Mal am Tag in den Keller runter, um Kohlen für die Heizung heraufzutragen. Vor hundert Jahren hat man täglich zwischen 15 und 20 Kilometer zurückgelegt, heute sind es noch knapp 2 Kilometer. Mit der landwirtschaftlichen Nutzung stieg auch der Milchkonsum sprunghaft an: Wer viel Butter, Milch oder Rindfleisch, also Transfette, zu sich nimmt, hat ein erhöhtes Alzheimer-Risiko. Und vor hundert Jahren hat man noch zwei Stunden mehr geschlafen als heute. Das ist viel.

Mir leuchtet ein, dass die moderne Lebensweise ungesund sein kann. Wie aber kommt man von dieser allgemeinen Analyse spezifisch zur Alzheimer-Krankheit?
Alzheimer ist eine Mangelkrankheit – ein Mangel an Bewegung, gesunder Ernährung, geistigen Aktivitäten, Schlaf. Ich könnte noch weitere Mängel aufzählen, aber die genannten sind mal zentral. Angehörige, die jemanden eng betreuen, haben ja selber ein 6-fach erhöhtes Alzheimer-Risiko, weil sie den gleichen Lebensweg gegangen sind, das Gleiche gegessen haben, meistens ähnlich sozial verankert sind. Wobei es nicht mal zwingend ein Übermass an Schlechtem sein muss – ein Mangel an hirnförderlichen Massnahmen ist auch ein Problem. Das sind zwei verschiedene Dinge, die aber zur gleichen Pathogenese führen.

Reden wir grad über diese Pathogenese. Frage 3 des Fragebogens lautet: Inwieweit sind die Ursachen von Alzheimer geklärt – von 0 bis 10?
1. Es sind kaum noch Lücken da. Alzheimer ist schon längst kein wissenschaftliches Problem mehr, sondern nur noch ein kulturelles.

Wie meinen Sie das?
Viele denken: Alzheimer ist unvermeidbar und unheilbar. Hier muss ein Kulturwechsel stattfinden – sowohl in der Forschung als auch in der breiten Öffentlichkeit.

Der Hirnforscher Adriano Aguzzi sagte mir: «Warum das Alzheimer-Toxin zum Tod der Nervenzellen führt, ist weitgehend unbeantwortet.» Sie hingegen sagen: Es sind kaum noch Lücken da. Das irritiert.
Man muss zwei Ansätze unterscheiden, den analytischen auf der ewigen Suche nach dem letzten Grund und den systemisch-pragmatischen, auf der Suche nach praktikablen Lösungen. Hirnforscher wie Adriano Aguzzi analysieren die Puzzleteile, die sie gefunden haben, bis in die kleinsten Bestandteile. Dagegen ist auch nichts einzuwenden, aber es birgt die Gefahr, das Gesamtbild aus den Augen zu verlieren. Ich hingegen setze Tausende von Puzzleteilen zusammen, bis sich ein klares Bild ergibt, wie die Alzheimer-Krankheit entsteht – und auch, wie man sie verhindern kann.

Dann lassen Sie uns dieses Puzzle zusammensetzen. Womit beginnen Sie?
Mit dem Hippocampus. Das ist jener Teil des Gehirns, der für unser episodisches Gedächtnis verantwortlich ist. Er zeichnet gewissermassen unser Leben auf. Damit diese Gedächtniszentrale mit unseren Erfahrungen wächst, produziert sie lebenslang neue Hirnzellen. Das macht den Hippocampus einzigartig, und genau da liegt der Keim der Alzheimer-Krankheit: Wenn nämlich die Entwicklung neuer Nervenzellen – die sogenannte Neurogenese – gestört ist.

Was führt dazu, dass die Neurogenese gestört wird?
Da kommt jetzt bereits unsere Lebensweise ins Spiel. Die Impulse für die Bildung neuer Hirnzellen stammen aus der körperlichen Bewegung. Wer sich bewegt, erlebt etwas; wenn neue Erfahrungen erwartet werden, bilden sich Nervenzellen. Damit die neuen Hirnzellen funktionieren, müssen sie wachsen und überleben. Dazu ist eine gesunde Ernährung wichtig. Ausserdem müssen sie sich vernetzen. Hierfür benötigen sie emotional bedeutsame Erlebnisse. Die gibt es weniger alleine vor dem Computer als in sozialen Aktivitäten.

Kann die Neurogenese schon bei Kindern gestört sein?
Das können Sie tatsächlich schon in der Schule beobachten. Wenn das Gehirn von Kindern durch Schlafmangel, Bewegungsmangel und zuckerhaltige Getränke eingeschränkt wird, dann sind die Nervenzellen nicht mehr aufnahmefähig. Den ganzen Schulstoff haben sie dann zuhause schon wieder vergessen, weil er gar nicht in den Hippocampus aufgenommen worden ist.

Und wenn das über Jahrzehnte so weiter geht, zeigt man irgendwann die frühen Symptome von Alzheimer: Verlust an Erinnerungsfähigkeit.
Es geht darüber hinaus. Der Hippocampus hilft auch, Belastungen auszuhalten. Wer eine gestörte Neurogenese hat, ist weniger stressresistent, hat mehr Cortisol, das wiederum schwächt die Neurogenese – ein Teufelskreis.

Für eine möglichst frühe Heilung müsste man also diesen Teufelskreis unterbrechen. Was passiert sonst?
Es werden weitere Teufelskreise angetrieben. Wenn ich in eine akute Stresssituation komme, was natürlich dann immer häufiger geschieht, muss mein Organismus Energie bereitstellen, die schnell verfügbar ist. Gleichzeitig muss alles, das ebenfalls Energie verbraucht, aber nicht dem Kampf oder der Flucht dient, abgeschaltet werden – so auch die Neurogenese. Bei chronischem Stress wird der Hippocampus daher insulinresistent. Falsche Ernährung unterstützt das: Transfette blockieren die Insulinrezeptoren ebenfalls und sorgen mit der Zeit für eine Art neuronale Diabetes. Der Hippocampus verhungert regelrecht.

Deshalb bezeichnen manche Leute Alzheimer als Diabetes Typ 3. Wie kommt es nun zur Bildung des Alzheimer-Toxins, das Hirnforscher wie Adriano Aguzzi untersuchen?
Bei Stress muss ich ja alle meine Sinne offen haben, also wird der Hippocampus mit Informationen überflutet. Diese Informationen werden mit Hilfe des Botenstoffs Glutamat von Zelle zu Zelle übertragen. Wenn ich Ihnen jetzt aber unmittelbar nacheinander zwei Sätze sage, die wichtig sind, dürfen diese ja nicht am gleichen Ort codiert werden, sonst überschreiben sie sich. Der Hippocampus muss also verhindern, dass in der gleichen Synapse nochmals Glutamat freigesetzt wird. Dazu ist das Beta-Amyloid da. Es ist ein Erinnerungsschutz. Erst in der Nacht, in welcher der Upload der Informationen in die Grosshirnrinde stattfindet, wird das Beta-Amyloid wieder abtransportiert, sonst kann man ja am nächsten Tag nichts Neues aufnehmen.

Das Beta-Amyloid hat also im Grunde eine gute Funktion!
Ja, aber bei chronischem Stress wird das Beta-Amyloid stetig erhöht. Man schläft schlechter, dadurch wird der Abtransport vermindert. Ab einer bestimmten Menge kommt es zu einer Verklumpung, welche die Synapsen verstopft. Ein Zusammenbruch der Blut-Hirn-Schranke führt ausserdem dazu, dass weniger Beta-Amyloid aus dem Gehirn raustransportiert wird – gleichzeitig sorgt aber genau das verklumpte Beta-Amyloid dafür, dass die Blut-Hirn-Schranke zusammenbricht.

Wieder ein Teufelskreis. Wie lange dauert es, bis solche Eiweissklumpen, die amyloiden Plaques, entstehen?
Das kann Jahre oder Jahrzehnte gehen. Allerdings sind die Plaques nicht das Problem. Auch das wurde lange missverstanden. Sie bestehen zwar aus Alzheimer-Toxin, aber in den Plaques ist es gebunden und deshalb nicht mehr schädlich. Das sind vielmehr die noch gelösten kleineren Beta-Amyloid-Verklebungen, sprich das sogenannte oligomere Beta-Amyloid. Diese unsichtbaren Komplexe sind das eigentliche Alzheimer-Toxin, weshalb es auch ohne das Vorhandensein von amyloiden Plaques zu Alzheimer kommen kann. Dies erklärt, weshalb der Nachweis von Plaques alleine wenig diagnostischen Wert hat und weshalb man die Plaques nicht unbedingt auflösen sollte, wie man es lange Zeit mit neuen Medikamenten versuchte.   

Ich fasse zusammen: Es gibt verschiedene Teufelskreise, die sich gegenseitig wie Räderwerke antreiben. Am Anfang steht die gestörte Neurogenese im Hippocampus, am Ende das Alzheimer-Toxin und der Tod der Nervenzellen in grossen Teilen des Gehirns. Wo ist der Point of no Return?
Die Krankheit sollte im Wesentlichen auf den Hippocampus beschränkt sein.

Kann man anhand konkreter Verhaltensweisen erkennen, dass der Point of no Return überschritten ist?
Die gestörte Erinnerungsfähigkeit ist ein guter Indikator: Wenn sich jemand an der Bushaltestelle nicht mehr sicher ist, ob er zuhause den Herd abgeschaltet hat, ist das früh im Verlauf. Spät wäre es, wenn er sich überhaupt keine Gedanken mehr dazu macht – obwohl er den Herd angestellt hat. Im frühen Alzheimer-Stadium sind die meisten Leute noch kognitiv intakt und verstehen auch, um was es in der Therapie geht.

Und worum geht es in der Therapie?
Die Hoffnung vieler Leute ist natürlich, gegen alle diese Mängel, die ich als Ursache beschreibe, eine Pille zu verschreiben. Eine Pille gegen Schlafmangel, eine Pille gegen Bewegungsmangel ... Dieser Ansatz kann aber prinzipiell nicht funktionieren. Man kann sich nicht einfach auf die Beta-Amyloide stürzen. Man muss alle pathogenen Mechanismen gleichzeitig therapieren. Es nützt ja nichts, wenn die Neurogenese und Insulinresistenz weiterhin blockiert sind.

Heilung ist Ihrer Meinung nach im frühen Stadium noch möglich. Sie beziehen sich beispielsweise auf eine Studie vom US-Amerikanischen Neurologen Dale Bredesen. Lassen Sie uns die einzelnen Massnahmen bei Bredesen kurz anschauen. Ich beginne mit: einfache Kohlenhydrate weglassen.
Ganz wichtig. Lebensmittel wie Weissbrot, Teigwaren, Milch oder Honig bremsen die Bildung von Ketonkörpern, die sogenannte Ketogenese. Ketonkörper sind wie die Glukose wichtige Energielieferanten für den Hippocampus und aktivieren die Neurogenese – insbesondere eben bei Insulinresistenz.

Fisch.
Ist zentral für unseren Speiseplan, weil er viele Omega-3-Fettsäuren enthält. Die meisten Menschen ernähren sich jedoch mit zu vielen Omega-6-Fettsäuren-haltigen Nahrungsmitteln, das sind fette Fleischwaren, Butter, Käse, aber auch heute gängige Speiseöle, wie zum Beispiel Sonnenblumen- oder Maiskeim-Öl. Ein Zuviel an Omega-6- und ein Zuwenig an Omega-3-Fettsäuren erhöht die Anfälligkeit des Gehirns und anderer Organe für Entzündungen. Zudem ist DHA, eine Fischvariante der Omega-3-Fettsäure, ein Schlüsselbaustein bei der Neurogenese.

Vitamin B12 und D3.
Wie nahezu alle anderen Vitamine sind sie wichtig für die Neurogenese und viele andere Stoffwechselvorgänge, die, wenn sie durch Mängel gestört sind, den Alzheimer-Krankheitsprozess vorantreiben.

Fasten.
Die Grundidee besteht darin, die Produktion von Insulin zu unterbrechen, damit vermehrt Ketonkörper gebildet werden, die dann sozusagen das Leben der Nervenzellen im Hippocampus retten. Bildlich gesprochen leiden diese Nervenzellen ja unter Ernährungsmangel, obwohl ein Haufen Glukose vor der Tür steht – aber die Tür geht nicht auf. Man muss aber nicht zwingend hungern: Durch Kokosöl kann ich den Nervenzellen im Hippocampus Nährstoffe zuführen, ohne die Ketogenese zu unterbrechen.

Meditation.
Eine Möglichkeit zum Stressabbau und damit zur Reduzierung von Cortisol. Hängt aber von der Persönlichkeit ab. Ich selber gehe lieber spazieren und wandern. Effekte der Meditation hat man immer dann, wenn man sich auf das Hier und Jetzt konzentriert.

Mundhygiene – elektrische Zahnbürste, Zahnseide.
Ist entscheidend. In der Mundschleimhaut wohnen viele Bakterien, die für das Gehirn, insbesondere bei geschädigter Blut-Hirn-Schranke sehr schädlich sein können.

Melatonin.
Das ist ein Schlafhormon. Melatonin würde ich aber nur bei natürlichem Melatonin-Mangel empfehlen. Und es gibt auch eine sanfte Variante: L-Tryptophan, der Vorläufer von Melatonin.

Die Ergebnisse der Bredesen-Studie sind ja beeindruckend: Bei 8 von 9 Patienten wurden der Zustand markant besser. Ist das jetzt der Gold-Standard? Sie zögern …
… weil vieles in der Studie nicht nachvollziehbar ist: Wie hoch war die Dosis der Substanzen? Wie stark waren die einzelnen Effekte? Hat sich zum Beispiel der Hippocampus vergrössert in diesem halben Jahr? Wie viel? Ist die Insulinresistenz runtergegangen?

Sie arbeiten selber eng mit einem Therapiezentrum zusammen und planen eine eigene Interventionsstudie. Wie gehen Sie vor?
Entscheidend ist, in einem ersten Therapieschritt diese Teufelskreise zu unterbrechen. Ohne eine aktive Neurogenese bin ich gar nicht fähig, etwas Neues zu lernen. Bei verminderter Stressresistenz hat ein Patient keine Energie, sich vielen Menschen auszusetzen, sich neuen Herausforderungen zu stellen. Es gibt eine Reihe von Unterbrechern – zum Beispiel das Johanniskraut. Oder man kann mit Lithium die Produktion von Beta-Amyloid blockieren.

Wie lange dauert es, bis diese Teufelskreise unterbrochen sind?
Der Prozess der Neurogenese erstreckt sich über fünf bis sechs Wochen – von der Stammzelle bis zur funktionierenden Nervenzelle im Hippocampus. So lange dauert es sicher. Es ist ja nicht so, dass ich mich heute bewege, damit aus Stammzellen Nervenzellen werden, morgen esse ich Fisch, damit die entstandenen Nervenzellen mittels DHA überhaupt wachsen können, und übermorgen muss ich dann sozial aktiv sein, damit die Synapsen gebildet werden. Sechs Wochen sind aber das absolute Minimum – viele Leute können nicht sofort alles ändern, was geändert werden müsste.

Angenommen, das die Teufelskreise wären unterbrochen. Dann bestünde der nächste Schritt darin, sie im Rahmen einer Art Schubumkehr in Engelskreise umzuwandeln – indem die Mängel konsequent behoben werden. Jetzt reden wir automatisch auch von der Prävention, ja?
Ja. Die Massnahmen zur Heilung im frühen Stadium unterscheiden sich nicht von jenen zur Prävention.

Beginnen wir mit der Bewegung. Was muss man tun, um die Neurogenese anzukurbeln?
Eine Stunde Bewegung am Tag ist schon mal gut. Ein optimaler Energieverbrauch würde 3’000 kcal pro Tag betragen, das entspricht zwei Stunden zügigem Wandern. Zum Vergleich: Jäger und Sammler waren 3 – 4 Stunden pro Tag gemächlich unterwegs. Ich würde darauf achten, jede kleine Chance zur Bewegung zu nutzen: Benutzen Sie die Treppe und nicht den Aufzug, nehmen Sie nicht den Bus, sondern gehen Sie kurze Distanzen zu Fuss. Und wenn Sie dennoch den Bus nehmen, weil die Einkaufstasche so schwer ist: Stehend an der Haltestelle zu warten ist schon wesentlich besser als sitzend, weil die Muskeln aktiver sind.

Die Bewegung ist in Ihrem Programm ein sehr zentraler Faktor.
Weil sie über mehrere Kanäle wirkt. Ein aktivierter Muskel produziert Irisin, das ist ein potenter Wachstumsfaktor für die Neurogenese. Der Tiefschlaf ist besser nach Bewegung, dadurch werden nachts vermehrt Wachstumshormone ausgeschüttet. Bewegung aktiviert Enzyme, die Beta-Amyloid abbauen. Gleichzeitig wird die Blut-Hirn-Schranke aktiviert, was auch zum Abbau von Beta-Amyloid beiträgt. Bewegung baut auch Cortisol ab. Das alles aktiviert die Neurogenese.

Kommen wir zu einem zweiten grossen Block: zur Ernährung. Wir haben vorher schon einige hirnförderliche Nährstoffe erwähnt – Fisch, Fischöl, Kokosöl.
Die Inhalte sind sicher wichtig, aber ganz entscheidend ist der Rhythmus. Wann brauche ich neue Nervenzellen im Hippocampus? Wenn ich etwas erlebe, das für mich wichtig ist. Wenn unser Gehirn Hunger hat, muss es funktionieren, denn ich muss den Ort wiederfinden, wo ich das letzte Mal die Beeren gefunden habe. Nahrungsmangel ist ein potenter Wachstumsfaktor für die Neurogenese. Sie schauen skeptisch ...

... weil es meiner Alltagserfahrung widerspricht. Mich macht Hunger eher müde, leistungsschwach.
Sie meinen aber den Hunger, der durch Unterzuckerung hervorgerufen wird. Der vermindert die Leistungsfähigkeit tatsächlich. Wenn ich morgens frühstücke und dann fünf Stunden am Schreibtisch sitze, steigt mein Blutzuckerspiegel an, als ob ich ein Diabetiker wäre, obwohl ich keiner bin. Der Hunger beim Fasten hingegen hält mich leistungsfähig.

Können Sie für das Fasten wieder einen Richtwert angeben?
Gut wären 16 Stunden. Zum Beispiel von 19 oder 20 Uhr abends bis 11 oder 12 Uhr morgens. Normalerweise unterbricht man ja, zumindest im englischen Sprachgebrauch, wörtlich das Fasten: break-fast. Man kann aber auch das Frühstück auslassen lassen. Ich trinke zum Beispiel morgens nur einen schwarzen Kaffee, dann breche ich «auf zur Jagd», gehe also meiner Arbeit nach.

Drittens: soziale Aktivitäten. Entscheidend ist, dass etwas emotional sei, haben Sie gesagt.
Wenn ich alleine zuhause am Schachcomputer sitze oder Puzzles löse habe ich weniger Effekte, was die Alzheimer-Prävention angeht, als wenn ich mit einem Kleinkind Memory spiele.

Ich kann diese Effekte aber auch haben, wenn ich mich alleine geistig beschäftige, oder?
Ja. Wenn ich wissenschaftliche Artikel lese, dann deshalb, weil sie meine Hypothesen stützen oder einen Hinweis darauf geben, was falsch sein könnte. Da kommt Emotionalität rein, Relevanz. Zuerst lese ich einen Fachartikel, später führe ich gedanklich Gespräche, etwa beim Joggen oder wenn ich abends auf dem Hometrainer sitze. Ich spiele dann manchmal den Advocatus Diaboli, der bestimmte Gegenargumente bringt: Was wäre, wenn ... Diesen Artikel vergesse ich nie mehr!

Viertens: genug Schlaf.
Neurogenese findet nur im Schlaf statt. Der Schlaf kurbelt die Neurogenese durch zwei Effekte an: Cortisol wird abgebaut, Wachstumshormone werden hochreguliert.

Wenn ich das so höre, dann fällt mir auf, dass das vier sehr grosse Blöcke sind. Ein konsequenter Anti-Alzheimer-Alltag würde für die meisten Leute gewaltige Umstellungen erfordern. Ein bisschen Prävention funktioniert hier nicht, oder?
Es gibt schon überlappende Bereiche. Wenn ich mich an einem Tag zwar nicht ausreichend bewege, aber genug schlafe, hat das insgesamt trotzdem einen gewissen Effekt. Nur weil die Jäger und Sammler im Schnitt 20 Kilometer am Tag gelaufen sind, muss ich das nicht auch tun. Jemand, der im Rollstuhl sitzt, schützt sich trotzdem stark vor Alzheimer, wenn er sozial stark eingebunden ist. Ich glaube nicht, dass der berühmte Physiker Stephen Hawkings, der ja bereits seit fast 50 Jahren an einer Nervenkrankheit leidet, Alzheimer haben wird.

Ich kann aber nicht sagen: Ich optimiere Bewegung, Schlaf und geistige Anregung – aber die ungesunde Ernährung lasse ich so, wie sie ist.
Es gibt Bereiche, wo man sagen muss: Wenn die ganz fehlen, dann geht’s einfach nicht. Das ist das Gesetz des Minimums. Ich kann nicht komplett auf Vitamin D verzichten, sonst sind zellphysiologische Vorgänge gestört und damit auch die Neurogenese. Schon ein Mangel an Vitamin D sorgt für ein 2 – 3-fach erhöhtes Alzheimer-Risiko.

Nun geben Sie ja ganz konkrete Hinweise, wie man eine Krankheit, vor der sich viele Menschen fürchten, verhindern oder teilweise sogar heilen kann – und werden trotzdem kritisiert, manchmal sogar von direkt Betroffenen oder deren Angehörigen.
Wegen der Schuldfrage. Wenn ich Vorträge halte, lautet mein zweiter Satz deshalb immer: «Um es vorwegzunehmen: Alles, was ich sagen werde, bedeutet nicht, dass jemand schuld ist. Es geht nicht um Schuld, es geht um Aufklärung.» Verantwortung setzt Wissen voraus.

Aber auch wenn man das Wissen hat, wie man vorbeugen könnte, ändern viele nichts.
Sie sprechen einen entscheidenden Punkt an: Nur ein Prozent der Bevölkerung ist überhaupt in der Lage, aufgrund von wissenschaftlichen Fakten ihr Verhalten zu ändern. Das Aufgeben bisher relevanter Glaubenssätze und kultureller Vorgaben gelingt bislang nur wenigen.

In Zukunft könnte die Alzheimer-Prävention sogar noch schwieriger werden. Es zeichnen sich zwei Megatrends ab: Automatisierung und Digitalisierung. Die Automatisierung entbindet von körperlicher Aktivität, die Digitalisierung von sozialen Aktivitäten ...
... und der Kühlschrank bestellt automatisch, was noch fehlt. Das wird ein grosses Problem: Man kann alles zuhause machen.

Sie selber haben Erfahrung darin, grosse Vorhaben umzusetzen. So haben Sie bereits zwei Mal das Race Across America absolviert: 4’800 Kilometer auf dem Rad, quer durch die USA. Beim ersten Mal waren Sie nach 10 Tagen, 22 Stunden und 56 Minuten am Ziel. Was war Ihre Taktik?
Ich bin eine völlige Anti-Alzheimer-Strategie gefahren. So habe ich etwa darauf geachtet, genügend Omega-3 zu mir zu nehmen. Allerdings habe ich Kapseln geschluckt, ich konnte nicht den ganzen Tag Fisch essen. Meine Frau hat zudem jeden Tag drei Kilogramm Gemüse entsaftet, damit ich es trinken konnte. Wichtig war auch Meditation, also Stressabbau. Gelassenheit. Mein Mantra war: «Lass die anderen fahren, mach dein Ding.» Im Prinzip habe ich nichts anderes gemacht als mich 15 – 16 Stunden am Tag locker zu bewegen. Mein Durchschnittspuls lag etwa bei 105. Und ich habe ausreichend geschlafen – jede Nacht acht Stunden lang.

Dafür haben Sie am Ende sogar eine Auszeichnung bekommen – als jener Finisher, der in der Geschichte des Rennens am meisten geschlafen hat. Einen möglichen Sieg haben Sie aber so regelrecht verschlafen.
Ich glaube nicht, dass ich durch einen Schlafverzicht, wie es alle anderen tun, hätte gewinnen können. Darum ging es mir auch gar nicht. Wer gewinnen will, muss versuchen, mit so wenig Schlaf wie nur irgend möglich auskommen – mit den entsprechenden Folgen. So sind hippocampale Gedächtnisstörungen typisch bei extremem Schlafmangel, worunter die schlaflosen Rennfahrer leiden. Diese erinnern an Alzheimer in der Frühphase. Zudem treten nach einigen Tagen Schlafentzug die für das Race Across America bekannten Wahnvorstellungen auf, die typisch für Alzheimer in der Spätphase sind. Weil der nächtliche Upload und das Verarbeiten von den täglichen Erlebnissen aus dem Hippocampus in den Neocortex unter diesen Umständen nicht mehr im Schlaf stattfinden kann, geschieht die Verarbeitung der Erinnerungen, wenn man wach ist und überlappt szenisch mit dem, was man aktuell gerade erlebt. Ich hatte aufgrund meiner Rennstrategie keine dieser Probleme. Mein Buch «Herausforderung Race Across America» konnte ich rein aus der Erinnerung schreiben.

Krisen haben sicher auch Sie gehabt. Was war Ihr Rezept dagegen?
Im Hier und Jetzt zu leben. Ich habe mir vorgenommen, jeden Moment bewusst zu erleben, Gespräche mit den Betreuern zu führen, die Landschaft anzugucken. So war ich zum Beispiel permanent damit beschäftigt, dem Team im Begleitfahrzeug hinter mir zu zeigen, wo sie Fotos machen müssen. Zudem konnte ich dauernd Konkurrenten überholen, die mich in der Nacht zuvor ihrerseits überholt hatten. Wir haben dann angefangen, Strichlisten zu führen, wie oft ich jeden überholt habe – das war ein Riesenspass. Das Radrennen wurde somit zu einer Metapher fürs tägliche Leben, denn die grösste Herausforderung für jeden von uns ist schliesslich das Leben selbst.

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Leo Pruimboom

Entscheidend ist: Welchen Sinn hat Alzheimer?

Und zwar nicht für Sie und mich, sondern in der Entwicklung der Menschheit. Die Antwort des Physiologen Leo Pruimboom in Kurzform: Alzheimer sei «evolution in a nutshell».

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Sie müssen das, was Sie tun, häufig variieren

Der Psychologe Mike Martin erklärt überdies, warum wir uns beim kognitiven Fitnesstraining am Polysportler orientieren sollten – und nicht am Bodybuilder.

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