Herr Jäncke, Sie sind Hirnforscher und Universitätsprofessor. Worüber haben Sie sich zuletzt fachlich eine Meinung bilden müssen?
Ich schreibe aktuell an einem Buch über das Wesen des Menschen. Mich beschäftigt die Frage, was uns eigentlich im Kern prägt – die Vernunft oder die Triebe? Da bin ich grad dabei, mir ein eigenes Meinungsbild zu schaffen.
Sie beschäftigen sich seit rund 40 Jahren praktisch täglich mit dem menschlichen Gehirn – und gehen trotzdem nicht mit einer festen Meinung an die Arbeit?
Der Stamm steht natürlich: der Mensch als merkwürdiges Wesen, das überzeugt davon ist, vernünftig zu sein – aber eigentlich doch ein Tier ist. Diesen Stamm gilt es nun so zu schnitzen, dass eine klare Argumentation und eine interessante Geschichte entstehen. Und bei dieser Tätigkeit lasse ich mich tatsächlich ein Stück weit treiben, ja.
Nehmen Sie uns da mal kurz mit. Wie gehen Sie vor?
Zum einen lese ich natürlich viele Artikel in Fachzeitschriften. Im letzten Halbjahr habe ich zudem eine Reihe von Büchern über Verhaltensforschung studiert. Eine ganz wichtige Quelle sind zum Beispiel die Werke von Frans de Waal, dem niederländischen Affenforscher, über das Sozialverhalten der Gorillas, Orang-Utans und Bonobos.
Das zeigt sich in Ihrer Grundidee: der Mensch als Tier.
Genau. Aber ich nehme mir jetzt auch wieder alte Philosophen vor: Aristoteles, Descartes.
Wie schaut es am anderen Ende des Medienspektrums aus, benutzen Sie auch Facebook, Twitter & Co. für die Meinungsbildung?
Nein – die sozialen Medien sind aber dennoch zentral für mein Buch. Ich möchte nämlich zeigen, dass die digitale Welt uns massiv überfordert. Wir werden überflutet mit Informationen. Unser Gehirn ist jedoch nicht für diese Facebook-Welt geschaffen.
Das ist ein Steilpass für unser Thema: Wie reagiert das Gehirn auf diese Flut von Tatsachen, Fake-News und Meinungen?
Es selektioniert erstmal, das ist uns biologisch vorgegeben.
Warum eigentlich? Unser Gehirn ist doch unheimlich leistungsfähig, hat rund 100 Milliarden Nervenzellen …
… und trotzdem reicht das nicht mal annähernd: 11 Millionen Bit pro Sekunde prasseln auf uns ein – bewusst können wir lediglich etwa 50 Bit wahrnehmen, that’s it.
Wie filtert das Gehirn diese Informationen?
Wir bevorzugen das, was unserem Vorwissen und der vorgefassten Meinung entspricht. Für den Rest sind wir mehr oder weniger blind.
Strebt das Gehirn denn nicht danach, immer klüger zu werden?
Das zentrale Anliegen des Gehirns ist es, Stabilität zu haben. Auf Teufel komm raus. Und diese Stabilität versucht es mit möglichst geringem Aufwand herzustellen.
Ändern wir deshalb auch unsere Meinungen so selten – zu viel Aufwand?
Ja, wobei wir kleine Schwankungen tolerieren, die finden wir hin und wieder sogar interessant. Je weiter wir uns allerdings von dieser Stabilität entfernen, desto unangenehmer empfinden wir es. Lesen Sie mal «Der Untertan» von Heinrich Mann: «Diederich Hessling war ein weiches Kind, das am liebsten träumte, sich vor allem fürchtete und viel an den Ohren litt», so beginnt der Roman, der vor ziemlich genau hundert Jahren veröffentlicht wurde. Dieser Knabe liebte es, mit seiner Mutter in den dunklen Wald zu gehen, sass auf ihrem Schoss und hat ein bisschen gezittert, fühlte sich jedoch sicher. Danach streben wir. Aber wehe, da kommen böse Leute, die uns fressen wollen.
Dieser Gefahr setzen wir uns heute zunehmend weniger aus, in den Filterblasen der sozialen Medien sind wir umgeben von Gleichgesinnten.
Deshalb ist es mir wichtig, meine Studierenden im realen Leben immer wieder aus dieser Komfortzone herauszuholen.
Machen wir ein Beispiel: Sollen Kinder mit einer ADHS Ritalin nehmen? Die meisten Ihrer Studierenden werden Google benutzen, wenn sie darüber Informationen sammeln.
Unter anderem, ja.
Die ersten drei Ergebnisse sind dann: Der Kinderarzt Remo Largo, nach welchem die Eltern das eigentliche Problem sind. Der Hirnforscher Gerald Hüther, der Kinder mit einer ADHS auf die Alm schickt, statt ihnen Medikamente zu geben. Und betroffene Eltern, die berichten, wie Ritalin ihrem Kind geholfen hat. Wie reagiert nun das Gehirn?
Alles, was die Stabilität gefährdet, wird erstmal bei Seite geschoben. Wenn jemand also grundsätzlich gegen Medikamente eingestellt ist, nimmt das Gehirn vor allem Largo und Hüther wahr. Für abweichende Informationen, die diesen ersten Filter trotzdem passieren, haben wir sicherheitshalber noch Mechanismen wie die Reduktion der kognitiven Dissonanz eingebaut. Vereinfacht gesagt versuchen wir damit, widersprüchliche Informationen so zu interpretieren, dass sie unserer vorgefassten Meinung nicht im Wege stehen.
In diesem Fall ...
... könnte man einfach sagen, dass Berichte betroffener Eltern subjektiv und deshalb wissenschaftlich nicht relevant sind. Fertig, aus.
Wenn ich Ihnen so zuhöre, kriege ich den Eindruck, Facebook und unser Gehirn tun doch genau dasselbe: die Informationen so filtern, dass sie unseren Meinungen entsprechen.
Nicht ganz. Wir filtern ja nicht von Anfang an selbst, sondern kriegen die Informationen bereits vorgefiltert. Das ist vor allem dann ein Problem, wenn es um die Intelligenz der Masse geht. Angenommen, hundert Personen beantworten zusammen eine Frage, wie etwa beim Publikumsjoker der TV-Show «Wer wird Millionär?». Das führt in der Regel zu einer guten Antwort – sofern die Personen unabhängig voneinander entscheiden können. Wenn nun aber alle ähnliche vorgefertigte Meinungen haben, weil sie in derselben Filterblase leben, fällt diese Möglichkeit zunehmend weg.
Wie holen Sie nun die Studierenden aus dieser Filterblase und Komfortzone raus?
Indem ich sie dazu animiere, der natürlichen Neugier nachzugeben und einfach mal minimale Abweichungen ihrer vorgefassten Meinung durchzuspielen. Also: Was wäre, wenn Ritalin einfach nur ein kleiner Teil einer Behandlungsstrategie wäre? Was wäre, wenn es nur zu Beginn eingesetzt würde? Die Grundidee ist: Wir werden nur dann eine wirklich fundierte Meinung bilden können, wenn wir die Fähigkeit, die Zeit und die Kraft haben, möglichst viele Informationen differenziert aufzunehmen und sie auch nur halbwegs ohne Verzerrung zu verarbeiten. Dieses Privileg haben aber nur wenige Menschen.
Der Publizist Roger de Weck ist sicherlich einer davon. Um sich fundiert eine Meinung zu bilden, müsse man sich möglichst vielfältig und umfassend informieren, sagt er.
Roger de Weck ist ohne Zweifel ein hochintelligenter und erfahrener Publizist, aber auch er liest ja nicht alle Zeitungen der Welt – also auch die Saudi Gazette, den China Daily oder den Indian Express. Vielmehr hält er eine Taschenlampe in der Hand und beleuchtet damit mehr oder weniger Europa. Sein Lichtkegel ist zwar wesentlich breiter als beim Durchschnitt der Menschen, aber er ist nicht so breit, dass er alles aufnehmen kann. Entscheidend ist nun aber vielmehr etwas anders: nämlich die Erkenntnis, dass wir unseren persönlichen Lichtkegel selber verändern können – wenigstens ein bisschen.
Dazu müssten wir zuerst einmal diesen Reflex ausschalten, der uns den Weg des geringsten Widerstands gehen lässt. Super-Computer wie Watson haben es da besser, die verfügen über fast uneingeschränkte Kapazitäten …
… zumal dort in den letzten Jahren ein fundamentaler Fortschritt stattgefunden hat: Früher basierten solche Maschinen auf relativ simplen Algorithmen, die Daten auswerten und darin einfache Muster erkennen konnten. Heute sind das neuronale Netzwerke, also lernfähige Algorithmen, die riesige Mengen an Informationen verarbeiten und Wahrscheinlichkeitsaussagen machen können.
Kürzlich diagnostizierte Watson an der Universität Tokio bei einem Patienten eine seltene Art von Leukämie, nachdem er innerhalb von wenigen Minuten 20 Millionen Forschungsberichte analysiert hatte.
Das ist ohne Frage beeindruckend. Nun haben wir es aber bei Ihrem Beispiel ADHS und Ritalin nicht mit einer Wissens-, sondern mit einer Meinungsfrage zu tun.
Macht das einen Unterschied?
Das ist eben ein sehr interessanter Punkt. Watson würde nämlich erstmal auch hier sagen: Ich brauche mehr Informationen! Also: Wie alt ist das Kind? Mädchen oder Knabe? Welche Symptome zeigt es? Wie häufig treten sie auf? Wie lange schon? Was zeigen Studien zur Wirkung von Ritalin bei einer ADHS? Wie belastbar sind diese Studien? Und so weiter. Eine künstliche Intelligenz würde zuerst einmal weitere Fragen stellen, bevor sie uns Antworten gibt.
Das erinnert mich an eine Aussage des Philosophen und Schriftstellers Peter Bieri, wonach Gebildeten zwei Fragen «zur zweiten Haut» geworden seien: Was heisst das genau? Und: Woher wissen wir, dass es so ist? Nun strebt das menschliche Gehirn aber danach, möglichst wenig Aufwand zu betreiben.
Deshalb nimmt das Gehirn bei der Meinungsbildung häufig eine Abkürzung und orientiert sich an klugen Menschen, die diesen Prozess bereits durchlaufen haben. Kapazitäten, denen trauen wir. Und zwar grundsätzlich. Richard Ernst sagte mir mal: Nachdem er 1991 den Nobelpreis für Chemie bekommen hat, war er plötzlich Fachmann für alles.
Und wenn man sich nun bei der Ritalin-Frage nicht sicher ist, ob man Largo oder Hüther folgen soll?
Dann kann man sich zum Beispiel die beiden auf Videos anschauen, auf ihre Körpersprache achten, auf den Kontext ihrer Aussagen, und dann entscheiden, ob man eher dem einen oder dem andern vertraut – oder keinem von beiden.
Nun sind Sie selber auch ein solcher Meinungsführer. Was meinen Sie denn: Sollen Kinder mit einer ADHS Ritalin nehmen?
Zuerst würde ich Informationen zur Differentialdiagnose einfordern, gerade bei leichteren Fällen. In unserer heutigen Gesellschaft wird Ritalin manchmal Kindern verschrieben, die einfach schlecht erzogen sind. Deshalb würde ich zuerst wissen wollen: Liegt da wirklich eine ADHS-Diagnose vor?
Watson hätte das ja genauso gemacht. Nehmen wir an, die ADHS-Diagnose kann gestellt werden.
Okay. Es würden jetzt noch weitere Fragen dazukommen, aber um es abzukürzen: Bei einer grossen Zahl von Kindern mit einer diagnostizierter ADHS ist Ritalin meines Erachtens durchaus sinnvoll. Aber nicht als einziges Mittel, sondern als Teil einer Behandlung, die zum Beispiel auch moderne Varianten des Neurofeedbacks einschliesst.
Dazu müsste man jetzt wiederum Hüther oder Largo Stellung beziehen lassen, das wäre interessant.Der soziale Austausch, die Diskussion, der Streit um das bessere Argument scheinen wesentliche Teile einer fundierten Meinungsbildung zu sein.
Ohne Zweifel. Da können wir uns übrigens etwas von den Affen abschauen. Jane Goodall, die berühmte Primatologin, hat in Tansania Jahrzehnte lang Schimpansen untersucht und festgestellt, dass die Affenmännchen an der Spitze ständig wechseln. So kommen immer wieder neue Meinungsführer und Meinungen hoch, die dann Mehrheiten finden müssen. Das ist wirklich lehrreich.
In der Wissenschaft funktioniert das ja ganz ähnlich. Worüber haben Sie persönlich Ihre fachliche Meinung einmal ändern müssen?
In meinen jungen Jahren als Hirnforscher habe ich geglaubt, man könne das menschliche Verhalten allein über neuronale Mechanismen erklären. Mittlerweile sehe ich die Sache zwar nicht ganz anders, aber doch deutlich erweitert. Philosophische Fragen etwa haben mich früher gar nicht interessiert, die fand ich total überflüssig.
Und heute liegen sogar Aristoteles und Descartes auf Ihrem Nachttisch.
Ich sage immer: Ich bin als Tiger gesprungen und als Bettvorleger gelandet.