Frau Springman, Ihr Alltag als Rektorin der ETH Zürich ist durch eine Vielzahl von Sitzungen geprägt, über die Sie mal gesagt haben: «Jeweils zwei Minuten vor Ende schauen die Teilnehmenden in meine Richtung und erwarten von mir einen Entscheid.» Wie gehen Sie vor, wenn Sie Entscheidungen treffen müssen?
Eine wichtige Grundregel lautet erstmal: Wenn es möglich und sinnvoll ist, delegiere ich eine Entscheidung an kompetente Personen auf der nächsten Ebene.
Und wenn das nicht geht?
Dann hängt es davon ab, wie vertraut ich mit einem Thema bin. Ist es ganz neu oder sehr komplex, tausche ich mich mit Expertinnen und Experten aus. Ich stelle Fragen, höre mir deren Antworten an und versuche mir so eine Meinung zu bilden. Im Idealfall lasse ich mir dabei Zeit und treffe die Entscheidung erst in allerletzter Minute.
Warum?
Die Grundidee besteht darin, sich bei komplexen Fragen erst dann eine Meinung zu bilden, wenn man wirklich alle relevanten Fakten und Argumente gehört hat. Sie stammt von Steven B. Sample, einem früheren Präsidenten der University of Southern California. Er nannte das thinking gray, weil komplexe Fragen immer eine Reihe von Grautönen haben. Das Gegenteil besteht darin, nur in Extremen zu denken, schwarz oder weiss, Freund oder Feind, richtig oder falsch. Das geht zwar schneller, führt aber zu schlechteren Entscheidungen.
Das deckt sich mit der Aussage des Publizisten Roger de Weck, wonach man sich möglichst umfassend informieren sollte, um sich eine fundierte Meinung zu bilden. Allerdings entspricht es nicht dem Klischee des zügig entscheidenden Managers.
Ich kann und will mir natürlich auch nicht unendlich viel Zeit nehmen. Beispielsweise bei Konflikten ist es wichtig, schnell zu entscheiden. Aber wenn es die Umstände erlauben, dann ist es für mich erstrebenswert, Fachleute beizuziehen und das ganze Meinungsspektrum zu hören.
Da können Sie auf ein grosses Reservoir zurückgreifen, an der ETH arbeiten rund 500 Professorinnen und Professoren ...
... wobei ich nicht einfach den Typus Albert Einstein meine, wenn ich von Expertinnen und Experten spreche. Doktorierende oder Studierende können auch eine Expertise haben – oder sollten es zumindest lernen, denn in der zukünftigen Arbeitswelt wird kritisches Denken eine der wichtigsten Fähigkeiten überhaupt sein. Entscheidend ist, dass jemand gute Argumente hat, diese aber auch hinterfragt und sich für die Gegenargumente interessiert.
Ihr Vorgänger Lino Guzzella hat deshalb 2012 die «Critical Thinking»-Initiative lanciert. Wurde das Thema vorher vernachlässigt?
Nein, die ETH hat diese Kompetenzen auch früher schon hoch gewichtet – einfach nicht unter diesem offiziellen Namen. Für kritisches Hinterfragen bleibt aber bei erhöhtem Leistungsdruck immer weniger Zeit. Deshalb braucht es eine Gegenbewegung. Insofern kann man nicht von einem Projektstart oder gar einem Projektende sprechen. Es ist vielmehr ein laufender Prozess. Mit der Initiative wollen wir u.a. die Dozierenden dazu animieren, kritische Reflexion in ihre Lehrveranstaltungen einzubauen.
Können Sie uns ein Beispiel geben?
Es gibt ein Seminar, in dem Physiker und Philosophen miteinander die Frage diskutieren: Hat Albert Einstein mit der Relativitätstheorie eine wissenschaftliche Revolution in der Physik ausgelöst – oder kann seine Theorie in eine Reihe des kontinuierlichen wissenschaftlichen Fortschritts eingeordnet werden? Wenn in der Lehre die Entdeckungen und Durchbrüche im Zentrum stehen, kann bei den Studierenden der Eindruck entstehen, die Physik sei eine einzige Erfolgsgeschichte. Ist sie aber nicht, sagen die Philosophen – und schon ist man mitten in einem spannenden Austausch. Interdisziplinäre Diskussionen erschweren es, dass man es sich in der Echokammer seines Faches bequem macht.
Kritisch geführte Diskussionen im Hörsaal sind das eine. Aber finden sie auch ausserhalb des Unterrichts statt?
Dazu kann ich Ihnen ein Beispiel geben: Soll der ETH-Rat die Studiengebühren erhöhen? Das war eine sehr kontroverse Frage, wie Sie sich vorstellen können. Deshalb hörten wir uns die Meinung der Studierenden an, diskutierten mit ihnen und lernten daraus. Gleichzeitig war das Ziel, dass auch sie bestimmte Argumente verstehen. Jetzt hat der ETH-Rat entschieden, dass die Erhöhung 300 Schweizer Franken pro Semester beträgt. Ich glaube, viele Studierende können das gut mit kleinen Einsparungen im Alltag kompensieren, und die Diskussionen haben sicher geholfen, die Akzeptanz zu erhöhen. Der Zugang zur ETH darf aber keinesfalls durch eine finanzielle Hürde erschwert werden. Wir werden das Stipendienwesen deshalb noch erweitern.
Studierende wären unterschiedlich stark betroffen – das ist einer der Grautöne, über die wir vorhin gesprochen haben.
Ein vereinfachtes Schwarz-Weiss-Denken würde dem komplexen Thema schlicht nicht gerecht werden, ja. In solchen Diskussionen müssen beide Seiten bereit sein, sich mit Argumenten auseinanderzusetzen, die zunächst nicht in ihr Bild passen. Das ist kritisches Denken.
Das ist aber auch grad einer der kritischsten Punkte: Die wenigsten von uns sind bereit, ihre vorgefasste Meinung in Frage zu stellen und sich wirklich auf Gegenargumente einzulassen. Behaupte ich jetzt mal.
Die Hirnforschung liefert dazu interessante Erkenntnisse. Danach braucht es weniger Energie, wenn man immer wieder dieselben Verbindungen im Hirn benutzt. Dies ist der Fall, wenn man es sich in seiner Komfortzone gemütlich macht und die eigene Sichtweise nicht in Frage stellt. Die Forschung hat aber auch gezeigt, dass diese Grenzen erweitert werden können: Wer sich vertieft mit neuen Themen und Meinungen auseinandersetzt, verändert auch seine Nervenverbindungen, weil das Gehirn plastisch ist.
Ich habe mit dem Hirnforscher Lutz Jäncke darüber gesprochen. Er sagte mir sinngemäss: Das Gehirn habe zwar die Eigenschaft der Plastizität, strebe aber nach Stabilität.
Weil es bequemer ist. Ich selber hatte als Professorin für Geotechnik klare Fliessgrenzen, um einen Begriff aus meinem Fachgebiet zu verwenden. Die Berufung zur Rektorin brachte dann plötzlich ganz neue Herausforderungen mit sich. Mit der Zeit konnte ich die Plastizität deutlich erhöhen. Aber man muss hartnäckig trainieren, seine Grenzen zu erweitern.
Inwieweit haben Ihnen dabei Ihre Erfahrungen aus dem Spitzensport geholfen? Sie waren Europameisterin im Triathlon, haben im Team den 32 Kilometer breiten Ärmelkanal durchschwommen, sind immer noch eine begeisterte Ruderin.
Gestern erst bin ich ein Rennen im ClubMasters-Achter gefahren. Die Distanz betrug zwar lediglich 1‘000 Meter, aber bei der letzten Austragung vor einem Jahr war ich bereits nach 500 Metern total erschöpft – nach weniger als zwei Minuten! Es war eine absolute Katastrophe. Gestern nun konnte ich viel mehr fürs Team arbeiten, weil ich mich besser vorbereitet hatte. Der Punkt ist: Wenn Sie am Start stehen, wissen Sie nie genau, was kommen wird. Aber Sie lernen, mit dieser Ungewissheit umzugehen.
Was heisst das übertragen auf das kritische Denken?
Ungewissheiten prägen ja auch die Wissenschaft, wir hatten vorhin das Beispiel des Fortschritts in der Physik. Ein guter Umgang damit wäre beispielsweise die Haltung: Auch wenn ein Problem komplex ist, viele Grautöne aufweist und ich die Lösung überhaupt noch nicht erkennen kann – ich halte das aus, verlasse falls nötig meine Komfortzone und werde einen Weg zum Ziel finden.
Diese Haltung muss man sich Schritt für Schritt aneignen. Dazu braucht es aber auch ein entsprechendes Umfeld. «Ich selber lernte kritisches Denken bereits als Studentin an der Universität Cambridge», sagten Sie mal. Ist uns Cambridge da einen Schritt voraus?
Das ist schwer zu sagen, weil es unterschiedlicheSysteme sind. In Cambridge werden die Studierenden ausgewählt – man studiert mit den Besten, weil vorab eine Auswahl getroffen wurde. Bei der ETH Zürich hingegen müssen viele Studierende erstmal beweisen, dass sie die Basisprüfungen bestehen – es finden also die Besten zusammen.
Wie zeigt sich dieser Unterschied im Hörsaal?
Als ich selber in Cambridge Ingenieurwissenschaften studierte, habe ich mich jeweils ohne zu zögern zu Wort gemeldet, wenn ich eine Bemerkung anbringen oder eine Frage stellen wollte. Hier sind die Studierenden zurückhaltender, sie kommen allenfalls nach der Vorlesung nach vorne und teilen mir unter vier Augen etwas mit. Manchmal antworte ich dann: «Vielen Dank, aber Sie könnten mir das auch vor allen anderen sagen! Ich bin ganz offen dafür.»
Wie können Sie den Mut zum kritischen Denken fördern?
Indem ich eine aufgeschlossene Atmosphäre erzeuge. Ein Grund für die Zurückhaltung der Studierenden ist ja, dass sie Fehler vermeiden wollen, gerade vor ihren Professorinnen und Professoren. Also probierte ich in einer Vorlesung mal etwas aus: Jeder und jede, der oder die eine Lösung für ein Problem vorschlugt, bekam eine Schokokugel. Und zwar unabhängig davon, ob die Lösung am Ende brauchbar war oder nicht. Vielmehr wollte ich den Willen und den Mut belohnen, sich an der Debatte zu beteiligen. Im Idealfall entsteht so irgendwann eine Diskussionskultur, in der sogar Ideen eingebracht werden, die bisher undenkbar schienen, weil sie gewohnte Denkmuster verlassen.
Einer der Schlüssel zum kritischen Denken scheint die Selbstkritik zu sein, also die Bereitschaft, seine eigenen Ansichten immer wieder zu hinterfragen. Worüber haben Sie zuletzt einmal Ihre Meinung geändert?
Meine Kollegen aus der Architektur trugen neulich die Idee vor, einen Master in Landschaftsarchitektur zu entwickeln. Ich war dem Projekt gegenüber zuerst äusserst skeptisch eingestellt: Ein zusätzlicher Master? Undenkbar. Nachdem mir der zuständige Professor die Hintergründe und Überlegungen im Detail erläutert hatte, änderte ich meine Meinung jedoch um 180 Grad. Ich liess die Kollegen und Kolleginnen die nächsten Schritte ausarbeiten und führte später in der Professorenkonferenz des Departments Architektur aus, warum das Projekt unterstützt werden sollte. Der Vorschlag wurde schliesslich einstimmig angenommen.
Da findet sich der rote Faden unseres Gesprächs wieder: Sich nicht voreilig festlegen, den Austausch mit Experten suchen und sich wirklich auf Gegenargumente einlassen, bevor man sich eine Meinung bildet.
In diesem Falle war es vor allem wichtig, gut zuzuhören. We have two ears and one mouth so that we can listen twice as much as we speak.