Herr de Weck, als Publizist befassen Sie sich seit Jahrzehnten mit dem Thema der Meinungsbildung. Worüber fiel oder fällt es Ihnen dennoch schwer, sich eine Meinung zu bilden?
Zum Glück fällt es mir generell immer schwerer, mir eine Meinung zu bilden. Schon als junger Recherchejournalist erfuhr ich, dass sich die Sachlage nach jedem zusätzlichen Telefonat mit einem Kenner der Materie bereits wieder etwas anders darstellte. Als Chef eines Unternehmens ist mir das noch viel bewusster geworden: Nach sieben Jahren an der Spitze der SRG, im Wissen, dass jede einzelne unternehmerische Herausforderung hochkomplex ist und wie anspruchsvoll es ist, Veränderungen herbeizuführen, misstraue ich der schnellen Meinung. Wenn eine Meinung fundiert sein soll, braucht es Zeit, Detailkenntnisse, manchmal auch Insiderwissen. In der sogenannten postfaktischen Gesellschaft gibt es viel zu viele schnelle Meinungen. Es lebe die langsame Meinungsbildung!
Ist eine langsame Meinungsbildung auch möglich, wenn man sich ausschliesslich auf die schnelllebigen sozialen Medien beschränkt?
Theoretisch schon, denn in den sozialen Medien bildet sich mittlerweile fast alles ab, was in den herkömmlichen Medien auch behandelt wird. Allerdings erfordert es dann auch die Bereitschaft, auf Facebook nicht nur Friend von Gleichgesinnten, auf Twitter nicht nur Follower von Gleichgesinnten zu sein, sondern ganz bewusst auch andere, gegensätzliche Meinungen zu suchen oder zu abonnieren.
Damit sprechen Sie eines der aktuell grössten Probleme an. Das Digitale erschwert mit Filterblasen das Finden widersprüchlicher Informationen. Stattdessen bekommt man in seiner Echokammer nur noch Beiträge zu sehen, die dem eigenen Weltbild entsprechen.
Sie sagen es. Menschen ziehen sich in diese Filterblasen zurück und lassen nur noch jene Informationen und Meinungen an sich heran, die perfekt in ihr Bild und Weltbild passen. Dadurch wird die Öffentlichkeit gespalten, wie man beispielsweise bei der Wahl von Donald Trump in den USA beobachten konnte. Eine fundierte Meinungsbildung setzt aber voraus, dass man nicht nur weiss, wie derjenige denkt, der nicht so denkt wie ich, sondern diese Gesichtspunkte auch bewusst einfliessen lässt. Im Idealfall bringen die gesammelten Informationen von jeder Seite die besten Hinweise und Argumente zur Geltung. Ausgewogene Informationen lassen die Filterblase zerplatzen und treten so der Fragmentierung der Gesellschaft entgegen.
Das leuchtet theoretisch ein. Aber wie bricht man konkret aus seiner Echokammer aus?
Ausbrechen kann jeder, der will. In meiner Jugend hatte ich einen Onkel in Frankreich, der konservativ war und die konservative Zeitung «Le Figaro» las, aber eben bewusst auch die linksliberale «Le Monde» – schlicht und einfach, um sich stimulieren zu lassen. Die digitale Welt ermöglicht es ja, jedenfalls theoretisch, jede nur erdenkliche Meinung, Analyse und Einordnung kennenzulernen. Man muss nur wollen.
Nehmen wir für den Moment an, man wolle – wir skizzieren in diesem Gespräch bewusst den Idealfall. Informiert man sich bereits ausgewogen genug, wenn man, um das Beispiel aufzunehmen, «Le Figaro» wie auch «Le Monde» liest?
Nein, das allein reicht noch nicht. Mindestens so wichtig wie die Kenntnisnahme anderer Meinungen ist das Nachdenken darüber, was nicht thematisiert wird, was in einer Zeitung, auf einer Website, im Radio oder im TV-Programm nicht aufgegriffen wird und trotzdem ein wichtiges Thema sein könnte. Das ist auch ein Teil der Meinungsbildung.
Der forensische Psychiater Marc Graf kritisierte in der Ausgabe dieser Reihe, in der es um die Therapierbarkeit von Straftätern ging, dass erfolgreiche Therapieverläufe von Straftätern in den Medien praktisch nicht thematisiert würden.
Wenn man eine Zeitung liest oder sich im Internet informiert, so müsste man sich, um dieses Beispiel grad aufzunehmen, bewusst fragen: Warum werden eigentlich immer Rückfälle von Straftätern thematisiert, Erfolgsgeschichten von Therapien und Resozialisierungen hingegen nicht? Gibt es sie nicht oder werden sie verschwiegen? Allerdings wird in den Medien und insbesondere im Internet inzwischen fast alles thematisiert – wenn auch mit unterschiedlicher Qualität der Vertiefung.
Die SRG ist sogar gesetzlich verpflichtet, hier eine hohe Qualität anzubieten: Laut Artikel 93 der Bundesverfassung soll sie «durch umfassende, vielfältige und sachgerechte Information» zur freien Meinungsbildung beitragen. Beleuchten wir die Rückseite: Wie sollen öffentliche Medien nicht informieren?
Nicht umfassend wäre es, wenn letztlich nicht alle wesentlichen Aspekte einer Information aufgegriffen würden. Vielfältig bedeutet: keine Filterblase. Und sachgerecht meint, die acht Funktionen des Journalismus wahrzunehmen: Informationen suchen, prüfen, überprüfen, einordnen, gewichten, erklären, kommentieren und, falls Fehler geschehen sind, korrigieren.
Informationen suchen, prüfen, überprüfen, einordnen, gewichten – sind das gleichzeitig auch die Aufgaben des Lesers im Zuge einer fundierten Meinungsbildung?
Im Grunde schon. Wir wären als Nutzer von Medien allerdings überfordert damit, dasselbe wie die Medien leisten zu müssen, nämlich Auslese, Einordnung, Vertiefung und Gewichtung. Aber Sie haben recht: Man ist nie davon enthoben, sich letztlich selber eine kritische Meinung zu bilden.
Dazu gehört es, in der zweiten Phase der Meinungsbildung den Wert der gesammelten Informationen zu analysieren. Für den Philosophen Peter Bieri sind dabei zwei Fragen zentral: «Was genau heisst das?» und «Woher wissen wir, dass es so ist?». Was bedeutet das für die Berichterstattung in den Medien?
«Was genau heisst das?» – das erfordert unter anderem, Informationen in einen grösseren Zusammenhang zu stellen. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen: Ein Arzt hat einen Kunstfehler begangen. Dann ist der grössere Zusammenhang vermutlich der, dass er insgesamt 99,9 Prozent der Patienten erfolgreich behandelt hat ...
... worüber aber nicht berichtet wird.
Dabei wäre die Beurteilung des erfolgten Kunstfehlers dann bereits eine andere. Darüber hinaus ist zu fragen: Wo hat er den Kunstfehler begangen – in der Kriegsmedizin, also in einem Lazarett hinter der Front, wo ihm ein Schwerverletzter nach dem anderen geliefert wurde oder unter Bedingungen, in denen er kunstgerecht arbeiten konnte? Wie war der Schweregrad der Operation? Hat er den Patienten im Voraus auch auf die Risiken der Operation hingewiesen? Ich nenne nur einmal diese drei Aspekte, es gäbe sicherlich noch weitere. Wichtig ist der Versuch, ein einzelnes Ereignis nicht isoliert darzustellen, sondern es besser verstehen und bewerten zu können, indem man, wie es in meiner Muttersprache heisst, les tenants et les aboutissants, die Ursprünge und die Folgen, nuanciert benennt.
Wir sprachen vorher kurz über die Therapie von Gewaltstraftätern. Dort müssten die Medien beispielsweise darauf hinweisen, was genau 30 Prozent Rückfallgefahr heisst – nämlich, dass von 100 vergleichbaren Straftätern 30 rückfällig werden und 70 nicht.
Bei jedem längeren Artikel über die Resozialisierung gefährlicher Straftäter muss in irgendeiner Weise der grössere Zusammenhang hergestellt werden, natürlich! Berichte, die nicht eingeordnet werden, sind ihrerseits gefährlich.
Zweitens lässt Peter Bieri die Leser fragen: «Woher wissen wir, dass es so ist?»
Für die Medien bedeutet das, immer alle Quellen anzugeben, damit der Leser die Informationen prüfen und überprüfen kann.
Nur dürfte der durchschnittliche Leser die angegebenen Quellen in den wenigsten Fällen eigenhändig überprüfen, also etwa die wissenschaftlichen Originalstudien lesen.
Deshalb richtet man sich häufig nach Vertrauensmedien aus. Das sind Medien, die einem über längere Zeit viel öfter erfreuen als enttäuschen. Medien, die gerade in den Gebieten, in denen man sich auskennt, kompetent berichten und somit die Vermutung nahelegen, dass dies in anderen Gebieten ebenfalls der Fall ist. In den sozialen Medien sind auch einzelne Personen des Vertrauens wichtig. Menschen mit Tiefgang, die den Willen zur vertieften Auseinandersetzung erkennen lassen – sei es durch ihre Kommentare oder durch die Lesehinweise, die sie ins Netz stellen.
Vorher hatten wir die Filterblasen kritisiert. Sind das nicht auch welche?
Es ist natürlich auch hierbei essentiell, mehrere, sich in ihrer Meinung unterscheidende Vertrauensmedien und Vertrauenspersonen zu konsultieren, mit einer Grundhaltung des kritischen Vertrauens.
Was meinen Sie damit?
Man sollte sich bewusst sein, dass jede Einordnung einer Information in den grösseren Zusammenhang auf einer Bewertung basiert. Bei vielen Protagonisten des Internets weiss man sehr genau, welche Werte sie verkörpern, bei vielen Zeitungen weiss man es auch – etwa, ob es sich um eine linke, liberale oder konservative Zeitung handelt. Und manchmal wird zwar vordergründig keine politische Haltung affichiert, trotzdem spürt man mit der Zeit, welches letztlich die Beurteilungskriterien sind.
Sie sagen das nicht anklagend, sondern im Sinne von: Das ist so, und das ist auch legitim – sofern die Medien ihre Perspektive offenlegen, damit der Leser dies einfliessen lassen kann, wenn er seinerseits die Informationen einordnet.
Mit meinen Studentinnen und Studenten am College of Europe vergleiche ich zuweilen die Berichterstattung in den jeweils englischsprachigen arabischen und israelischen Medien über dasselbe Ereignis. Dabei zeigt sich: Was für die einen ein Aufbegehren gegen Unterdrückung ausdrückt, ist für die anderen sinnloser Terror. Selbst die Bezeichnungen der Menschen ändern sich: Auf der einen Seite sind es dann junge, freiheitsliebende Menschen, auf der anderen Seite politische Kriminelle. Entscheidend ist: Beide Redaktionen haben auf ihre Weise die elementaren journalistischen Pflichten vielleicht sogar erfüllt, die Ereignisse letztlich korrekt dargestellt, aber in einem Licht, einem Duktus, einem Drall, der durch und durch kulturell geprägt ist. Wie wir über nichtwestliche Ereignisse berichten und wie nichtwestliche Medien über nichtwestliche Ereignisse berichten, das sind zwei Paar Schuhe. Der Journalismus ist sehr stark kulturell geprägt.
Das ist interessant. Im Grunde beschreiben Sie doch gigantische kulturelle Filterblasen, die einen starken Einfluss auf unsere Meinungsbildung ausüben, aber schwierig zu erkennen sind.
Sie bringen mich hier auf eine Idee ... Man müsste das in den Medien vielleicht da und dort stärker zur Geltung zu bringen – in Form einer Gegenüberstellung zweier Möglichkeiten der Berichterstattung, die beide vordergründig die journalistischen Kriterien erfüllen, aber im Grunde genommen zwei Weltanschauungen widerspiegeln.
Das würde auch Ihre Definition von Meinung abbilden, die Sie einmal an einer Maturrede in Pratteln – Quellenangabe! – geäussert haben: «So sehe ich das! Man kann es aber auch anders sehen.» In der dritten Phase der Meinungsbildung gilt es, die gesammelten Informationen abzuwägen. Muss man das eigentlich immer?
Nein, es gibt Grenzen. So sehr man sich bei der Meinungsbildung darum bemühen muss, die Komplexität zu durchdringen, so wenig darf man zulassen, dass Grundwerte berührt, verletzt oder missachtet werden. Für ein öffentliches Medienhaus sind die Kriterien ganz klar diejenigen der Aufklärung – Menschenrechte, Menschenwürde, Schutz der Minderheiten. Wir sollen ausgewogen berichten, aber nicht wertfrei.
Idealerweise wägt man die Informationen nicht nur für sich im stillen Kämmerlein ab, sondern sucht den sozialen Austausch. Bei der Wochenzeitung DIE ZEIT, wo Sie Chefredakteur waren, fand jeweils freitags und montags die sogenannte politische Konferenz statt. Wie muss man sich diese Debattierrunde vorstellen?
Rund um den Tisch waren Fachleute der Innen- und Aussenpolitik zugegen – so etwa Helmut Schmidt, Marion Gräfin Dönhoff, Dieter Buhl, einer der besten USA-Kenner, Christian Schmidt-Heuer, einer der besten Kenner Russlands oder auch Matthias Nass, einer der besten Kenner Chinas. Und dann wurde die Aktualität durchbesprochen. Die einen taten dies sehr faktisch, die anderen meinungsfreudig, und wenn die Meinungsfreudigen überwogen, wurden sie von den Faktischen wieder zurück auf den Boden der Tatsachen geholt und vice versa. Das war ausserordentlich stimulierend. Es musste sich übrigens auch nicht notwendigerweise eine einhellige Meinung herauskristallisieren. Das Ziel war vielmehr das Gegenüberstellen von Aspekten. Den Leitartikel schrieb dann letztlich derjenige, dessen Meinung am fundiertesten rüberkam.
Dieses Beispiel zeigt aber auch: Es braucht neben einer profunden Sachkenntnis auch bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, um sich eine fundierte Meinung zu bilden – etwa einen unabhängigen, unbestechlichen, mutigen Geist. Kapazitäten wie einem Helmut Schmidt zu widersprechen – das stelle ich mir schwierig vor.
Aber es war durchaus möglich. «Helmut, das ist Unsinn!» – dieser Satz ist in nicht wenigen Konferenzen gefallen. Auch die Jüngeren waren eingeladen, sich einzubringen. Mit einem Leitsatz im Hintergrund, den ich wunderbar finde: «Hier gibt es keine Sitzordnung – aber wehe, wenn Sie sie verletzen.» Eine Frage des Fingerspitzengefühls also auch.
Nun ist es das eine, sich eine fundierte Meinung zu bilden – ebenso wichtig ist aber die Fähigkeit, sie aufgrund guter Argumente auch ändern zu können. Worüber haben Sie Ihre Meinung geändert?
Als ich als Journalist zur SRG kam, erachtete ich die Informationssendungen als wichtigsten Spiegel eines Landes. Ich habe aber registriert, dass gute Filme, gute Serien, gut erzählte Geschichten, auch die Spiele der Fussballnationalmannschaft mindestens so sehr zum Selbstbild eines Landes beitragen wie Informationssendungen. «SRF bi de Lüt» zum Beispiel, wenn eine kleine Ortschaft porträtiert wird, Vertreter der lokalen Politik, der Kultur und des Zusammenlebens zu Wort kommen – das ist auch ein Spiegel der Schweiz. Da habe ich enorm viel dazugelernt.