Fabian Cancellara, am 10. August 2016 haben Sie mit dem Olympiasieg im Zeitfahren in Rio Ihre Karriere gekrönt. Wie haben Sie sich auf diesen Tag X vorbereitet?
Da steckt eine besondere Geschichte dahinter. 2016 war mein Abschlussjahr.
Sie haben Ihre Profikarriere nach 15 Jahren beendet.
Das Jahr stand im Zeichen des Abschiednehmens von jedem einzelnen Wettkampf. Und jene Saison war gespickt mit Highlights: Die grossen Ein-Tages-Klassiker im Frühjahr, der Giro d’Italia mit einem Auftaktzeitfahren, die Tour de Suisse, die Tour de France mit der Etappe in Bern – und dann noch die Olympischen Spiele in Rio. Diese spezielle Konstellation war mir schon zu Beginn des Jahres bewusst.
Wie gingen Sie an die Sache heran? Sie hätten sich zum Beispiel auf die Höhepunkte konzentrieren und die anderen Rennen einfach als Training nutzen können.
Das kam nicht in Frage. Mitfahren und einfach mal schauen, wie es so läuft – nein, das war nie eine Option in meiner Karriere. Ich ging immer an den Start, um Rennen zu gewinnen.
Der Saisonauftakt war dann ja auch tatsächlich erfolgreich. Sie präsentierten sich im Frühjahr bereits in guter Form und errangen vier Siege.
Das stimmt, ich habe eine Reihe von Erfolgen verbucht. Aber es war kein Sieg darunter, der mir das Gefühl gegeben hätte: Jetzt höre ich auf.
Moment. Sie hätten plötzlich gesagt: Das war’s?
Wenn das Momentum gepasst hätte, dann ja.
Was wäre so eine Konstellation gewesen?
Wenn ich zum Beispiel die Flandern-Rundfahrt ein viertes Mal gewonnen hätte und damit alleiniger Rekordhalter gewesen wäre.
Sie wurden Zweiter hinter Peter Sagan. Als dieser eine grosse Sieg mit Knalleffekt im Verlauf des Frühjahrs nicht kam: Haben Sie sich da eine neue Strategie zurechtgelegt?
Ich habe das Jahr gedanklich zu Ende geplant und mir gesagt: Okay, ich absolviere das vorgesehene Rennprogramm und gehe dann an die Olympischen Spiele, sage aber nicht öffentlich: Ich will dort eine Medaille – zumal die hügelige Strecke nicht unbedingt auf mich zugeschnitten war. Ob das Taktik oder Verdrängung gewesen ist, kann ich nicht sagen. Ich weiss nur, dass ich das Thema Rio 2016 nicht proaktiv angegangen bin.
Das ist untypisch für Sie. Sie waren eigentlich bekannt dafür, Ihre Ambitionen sehr offensiv zu kommunizieren.
Dazu hatte ich mir zu diesem Zeitpunkt der Saison nicht genug Selbstvertrauen erarbeiten können. Die einzelnen Rennen waren zwar immer ein Highlight – aber immer nur im Hinblick darauf, ein weiteres Kapitel abzuschliessen.
War der Tag X in dieser Zeit überhaupt kein Thema?
Natürlich habe ich ab und zu in einer ruhigen Minute Erinnerungen an vergangene Erfolge bei den Olympischen Spielen hervorgeholt, um positive Gefühle auszulösen. Ich habe das aber jeweils schnell wieder zur Seite geschoben.
Es ging ja auch Schlag auf Schlag mit Highlights weiter. Eines davon war die Tour de France im Juli.
Die Tour war immer eine Hassliebe von mir, und die Etappenankunft zuhause in Bern machte das Ganze noch spezieller. Aufgrund der Konstellation mit Olympia habe ich mich zudem entschieden, in der Schweiz aus der Tour de France auszusteigen, damit ich mich zuhause auf die bevorstehenden Spiele vorbereiten kann.
Fiel Ihnen dieser Entscheid schwer? Zumal bis zur triumphalen Einfahrt auf den Champs-Élysées nur noch vier Etappen zu fahren waren.
Mir war natürlich bewusst, dass ein Rennfahrer in seinem letzten Jahr eigentlich in Paris ankommen muss, das gehört einfach dazu. Aber für mich passte das in dieser Konstellation einfach nicht. Ich habe die Tour dann in Finhaut-Emosson beendet, einer Bergankunft im Wallis.
Mehr als 100'000 Zuschauer säumten die Strassen der Etappe, die Sonne strahlte am Himmel, es war ein Volksfest. Wie ging es Ihnen an diesem Abend?
Ich war fix und fertig. Als ich mich vom Team verabschiedete, hatte ich Tränen in den Augen. Ich bin ein sehr intensiver Mensch, mich belasten Sachen mehr als andere.
Und dann waren Sie plötzlich weg vom Trubel und vom Team, zuhause in Bern.
Ich bin erstmal drei Tage lang emotional am Limit gewesen. Müde, schlapp, ausgelaugt.
Laut dem Sportpsychologen Jan Rauch sollte man im optimalen Leistungszustand sein, um Spitzenleistungen zu erzielen: nicht zu locker, nicht zu angespannt. Von dieser Zone waren Sie weit entfernt ...
Im Rückblick stand ich Monate lang unter einer enormen emotionalen Anspannung, die ihren Höhepunkt beim Abschied von der Tour de France in meiner Heimat erreichte. Aber nun hatte ich auch dieses Kapitel beendet.
Ihnen blieben damals lediglich noch drei Wochen Zeit bis zum Tag X. Hat Sie das nicht völlig verunsichert?
Es war eine Mischung. Ich war zwar emotional erschöpft, wusste aber auch, dass ich nach der Tour über eine sehr gute Grundlagenausdauer verfügen würde, weil ich dort nicht gross im roten Bereich gefahren bin. Zu Luca Guercilena, meinem damaligen Trainer, habe ich nach der Tour gesagt: Ich gehe jetzt heim, erhole mich und bereite mich dann kurz und intensiv auf die Olympischen Spiele vor. Als die ersten Anzeichen einer neuen Motivation kamen, begann ich das Töfftraining mit Luca.
Da fahren Sie mit dem Velo dicht hinter einem Motorrad her, um möglichst intensive Einheiten durchpowern zu können. Wo standen Sie in der mentalen Vorbereitung?
Schon nach dem ersten Training gab es einen Schlüsselmoment. Als wir zusammen die Leistungsdaten analysierten, sagte Luca einen entscheidenden Satz zu mir: «Du bist fitter und besser, als wir beide gedacht haben – da liegt etwas drin.» Innerlich hat das wie eine kleine Explosion im Kopf ausgelöst.
Wie muss man sich das vorstellen?
Wie eine Staumauer, die gebrochen ist. Ich konnte plötzlich alle Emotionen in ein einziges Thema kanalisieren: das Kapitel Olympia mit der Goldmedaille beenden.
Das letzte Kapitel Ihrer Karriere.
Dies setzte eine Unmenge an Energien frei, die ich alle ins Training investiert habe. Wir simulierten dann den Parcours von Rio auf einem Circuit in der Nähe von Bern.
Haben Sie die Strecke des Zeitfahrens heute noch vor Augen, vier Jahre später?
Jeden Meter, jede Welle. Es gab eine erste Welle, danach war es kurz flach, zweite Welle hart, wieder flach, dritte Welle bisschen länger als die ersten beiden Wellen, aber leichter. Und das mal zwei, weil beim Olympischen Zeitfahren zwei Runden zu absolvieren waren.
Wie detailliert simuliert man das?
Rein vom Fahrgefühl her versuchten wir den ganzen Parcours abzubilden. Aber es gab natürlich Grenzen. Die zweite Steigung beispielsweise war so hart und steil und die Abfahrt danach so technisch, dass wir nicht jedes Element detailgetreu einbauen konnten.
Viele Spitzensportler arbeiten auch mit Visualisierungen. Hatten Sie während dieser Trainings motivierende Bilder von Olympia vor dem inneren Auge?
Überhaupt nicht. Für mich bedeutete Vorbereitung «in die Fresse hauen», wenn ich das so sagen darf. Es ist brutal, man schindet sich, ich habe gelitten wie ein Hund. Diese Trainings waren so hart – manchmal schaffte ich es kaum noch nach Hause. Einmal sagte mir Luca beim Ausfahren, ich solle ganz locker treten, mich aktiv erholen. Aber ich hatte so viel Laktat in den Beinen, dass jede Pedalumdrehung schmerzte. Also schummelte ich und suchte den Windschatten des Motorrads selbst bei den kleinsten Wellen, mit nicht mal 30km/h auf dem Tacho.
Aber die Formkurve ging steil nach oben.
Beim letzten Training vor der Abreise nach Rio waren vier Stunden eingeplant, doch nach ein paar intensiven Hügeln haben wir gesagt: Ist gut, es reicht, machen wir Schluss. Ich ging nach Hause, feierte den 1. August, packte meine Sachen für Rio und sagte: «Hey, wenn ich Gold hole, höre ich auf.» Und alle haben mich mit grossen Augen angeschaut.
Diese Trainingstage, die Sie jetzt geschildert haben, brachten in der Vorbereitung auf den Tag X eine monumentale Wende. Rückblickend analysiert: Was genau ist dort passiert?
Um mental bereit zu sein, muss man sich im Kopf einen Schlüsselbund erarbeiten, um Tür für Tür immer wieder den geeigneten Schlüssel zu haben. Solche Mentaltechniken allein reichen aber nicht: Du kannst dich auf den Tag X mental perfekt vorbereiten, du kannst dir die ideale Taktik zurechtlegen – aber es braucht immer auch Schlüsselmomente, die das alles zusammenbringen, damit sich die Türen dann auch wirklich öffnen lassen.
Was genau passierte in so einem Schlüsselmoment bei Ihnen?
Es führte bei mir dazu, dass ich mich emotional voll und ganz auf die Herausforderung einlassen konnte. Ich nenne das Gefühlsbereitschaft.
Das ist für mich eine zentrale Erkenntnis: Mentale Techniken alleine reichen nicht. Es braucht auch diese Gefühlsbereitschaft, die häufig in Schlüsselmomenten entsteht – und dann wie der sprichwörtliche Funke wirkt, der das Pulverfass zum Explodieren bringt.
Mentale Stärke ist weder einfach Kopfsache noch Bauchgefühl. Erst die Kombination setzt Energien frei.
Und führt idealerweise sogar zu einem Flow – wie in diesen Tagen vor Olympia.
Dieser Wasserfluss war am Anfang nur ein kleiner Bach. Aber links und rechts lag Schnee, und als der geschmolzen ist, ist der Bach immer breiter geworden und hat Fahrt aufgenommen. Mit der Zeit ist ein reissender Fluss entstanden – im positiven Sinn von Energie. Living in the flow, living in the zone.
In diesem Zustand ging es nach Rio.
Beim Flug waren auch Journalisten mit an Bord. Alle waren erstaunt, wie fit, wie schlank ich war, welche innere Ruhe ich ausstrahlte. Auch im Olympischen Dorf ging es nicht um Spezialwünsche, sondern um Einfachheit, simplicity. An diesem Motto haben wir uns orientiert.
Was verstehen Sie unter simplicity?
Wir haben das Equipment wie Helm oder Laufräder einfach so gelassen, wie es war. Lediglich bei der Bereifung haben wir ein bisschen was ausprobiert, der Rest blieb. We have, what we have. Alle, die Mechaniker, das ganze Team, haben das Maximum aus sich herausgeholt, ohne dass wir gross darüber gesprochen hätten.
Vier Tage vor dem Zeitfahren kam zuerst das Strassenrennen.
Das hat mir zusätzlich noch Energie gegeben. Die Taktik war, dass ich mich die ersten 100 Kilometer an der Mannschaftsarbeit beteilige, dann ausklinke und nach 150 Kilometern aus dem Rennen aussteige, weil ja kurz darauf das Zeitfahren anstand. Am Schluss war ich der letzte Schweizer, der noch was für unseren Leader ausrichten konnte.
War das auch ein bewusstes Zeichen an die Konkurrenz?
Die ganze Radszene hat natürlich gemerkt: Da ist einer bereit. Ich habe mich danach auch extrem schnell erholt. Mental war ich schon kurz nach Ende des Rennens voll auf das Zeitfahren fixiert. Nicht auf Gold, nicht auf die Konkurrenten wie Chris Froome, Tom Dumoulin, Tony Martin oder Rohan Dennis, sondern einfach nur auf die 54.5 Kilometer.
Dann war er da, der Tag X: Mittwoch, 10. August 2016.
Am Morgen bin ich auf die Rolle im Gartenzelt, habe Musik gehört, mein Warm-up gemacht. Nachher hat man mir erzählt, dass unmittelbar daneben ein extrem lauter Generator ratterte. Alle hielten den Atem an, normalerweise motzte ich, wenn etwas nicht wie geplant lief. Doch ich befand mich voll in meinem Tunnel, auch in den folgenden Stunden bis zum Start.
Um 16:34 Uhr war es dann so weit.
Auch die Funksprüche während des Rennens wurden einfach gehalten: Nicht im roten Bereich fahren in der ersten Runde. Eins nach dem andern. Kein Gedanke an die Konkurrenz. Ich habe meine ganze Energie nur darauf fokussiert, worum es letztlich ging: die 54.5 Kilometer.
Nach 1h 12 Min 15 Sek waren Sie im Ziel. Bestzeit mit 47 Sekunden Vorsprung auf diesem schweren Parcours, Sie sind förmlich geflogen.
Nachher habe ich dann gehört, dass sie mir im Begleitfahrzeug zum Teil fast nicht folgen konnten, gerade in den Abfahrten. Als ich das im Nachhinein im TV gesehen habe, war es Hitchcock, im Rennen selber nur Flow.
Angenommen, Sie hätten im Vorfeld des Rennens nicht in diese Zone gefunden. Kann man den Schalter auch im Wettkampf selber noch kippen – innerhalb von Sekunden?
Bis zu einem gewissen Grad schon. Man kann aus schlechten Beinen mit dem richtigen mentalen Zugriff gute Beine machen.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Paris-Roubaix 2014. Eine Woche zuvor hatte ich die Flandern-Rundfahrt gewonnen. Am Freitagabend kam der Teamchef und verbot mir, am Sonntag im Rennen ein bestimmtes Material einzusetzen. Ich war auf 200! Bei der Trainingsfahrt am Samstag war ich immer noch voll unter Adrenalin.
Sie sind als Perfektionist bekannt.
Am Sonntag stand ich wie ein ausgepresster Schwamm am Start. Nach drei Vierteln des Rennens habe ich dem sportlichen Leiter gesagt: Ach, lassen wir’s, da kommt nichts mehr, und dann fahren noch alle gegen mich ... Und er antwortete nur: «Die sind doch alle im roten Bereich.» In diesem Moment habe ich den Turbo gezündet und begonnen, das Feld von hinten her aufzurollen. Am Schluss bin ich noch Dritter geworden, weil ich nach diesem Schlüsselmoment die richtigen Emotionen gefunden habe, um wieder ins Rennen reinzufinden.
Da ist sie wieder, die Gefühlsbereitschaft.
Ganz genau.
Diese mentale Stärke haben Sie sich im Verlauf Ihrer Laufbahn angeeignet. Hatten Sie Vorbilder, denen Sie nacheifern konnten?
Andere zum Vorbild zu nehmen ist schwierig. Schauen Sie, Miguel Indurain war zwar immer mein Idol, aber ich wusste ja nicht, wie es ist, Indurain zu sein im Rennen. Wie er denkt und plant, fühlt und leidet. Doch genau um diese Innenwelten geht es. Die kann man aber nur bei sich selber entdecken – und dann gezielt daran arbeiten, Tag für Tag, mit Leidenschaft und Willen.
Ihr Rat an junge, ambitionierte Athletinnen und Athleten?
Man muss zu seinem eigenen Vorbild werden.