Jörg Abderhalden, Sie sind der erfolgreichste Schwinger aller Zeiten. Gab es Phasen in Ihrer Karriere, wo Sie mental so stark waren, dass Sie sich fast unbezwingbar fühlten?
Ja, die gab es schon. Zum Beispiel vor dem Eidgenössischen Schwingfest 2004 in Luzern.
Damals landeten Sie einen Start-Ziel-Sieg und wurden zum zweiten Mal Schwingerkönig. Denkt man in solchen Wettkämpfen: Wenn ich alles richtig mache, werde ich gewinnen?
Mehr noch: Eine Niederlage zog ich gar nicht erst in Betracht. Für mich war vor jedem Gang völlig klar: Ich gewinne diesen Kampf. Das hat Auswirkungen auf das Auftreten, die Ausstrahlung gegenüber dem Gegner, den Blickkontakt, den Händedruck, die Körperspannung beim Greifen – das alles ist beim Kampf Mann gegen Mann extrem wichtig.
Was taten Sie in den Monaten davor, um in diesen Zustand der Unbesiegbarkeit zu kommen?
In der Vorbereitung auf den Tag X wurde das Ziel, Schwingerkönig zu bleiben, zu meinem Lebensmittelpunkt, an dem sich alles ausrichtete: Die Partnerin musste einen Schritt zurücktreten, ich verzichtete auf Alkohol, schlief viel. Und natürlich musste die Qualität im Training optimal sein – vor dem Schwingfest in Luzern zum Beispiel ging ich bewusst neue Wege mit einem damals ganz modernen Stabilitäts- und Krafttraining auf einem Balancegerät. Es waren viele Puzzleteile.
Die Teile passten perfekt zusammen: In der Vorbereitung gewannen Sie sieben Kranzfeste.
Mit jedem Erfolg steigerte sich das Selbstvertrauen dann noch mehr, wie eine Spirale der mentalen Stärke. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl, wenn man weiss: Ich habe so gut trainiert wie noch nie, ich bin so fit wie noch nie. Irgendwann hat man dann wirklich das Gefühl, man sei unbesiegbar.
Fabian Cancellara sprach diesbezüglich von einer «Gefühlsbereitschaft», die sich idealerweise im Verlauf einer Vorbereitung auf den Tag X einstellt. Bei ihm wurde sie durch Schlüsselmomente ausgelöst. War bei Ihnen diese absolute Fokussierung am wichtigsten?
Nein, das allein macht dich noch nicht zum Schwingerkönig. Es braucht mehr. Ich unterscheide da: Es gibt die Siegschwinger – und es gibt die anderen.
Wie meinen Sie das?
In meinem Umfeld gab es mal einen Schwinger, der sagte: «Ich bin so oft Zweiter hinter dem Abderhalden. Wenn der nicht wäre, wäre ich auch mal Erster.» Als ich aber aufgehört habe, wurde er immer noch Zweiter, weil dann einfach ein anderer kam, der gewonnen hat. Nein, er hätte sagen müssen: Hoffentlich schwingt der noch möglichst lange, denn ich will ihn unbedingt besiegen, ihn verdrängen! Ich wollte immer Erster sein. Dieser Siegeswille war vermutlich das grösste Talent, das ich gehabt habe.
Kann man sich diesen Siegeswillen im Laufe der Jahre aneignen?
Ich glaube nicht. Dass man ein Seriensieger wird, hat meiner Meinung nach sehr viel mit Talent zu tun. Das hat man – oder man hat es nicht. Es gibt Leute, die sind einfach nicht dazu gemacht, Seriensieger zu werden, und das hat mit mentaler Stärke tun. Beim Kampf Mann gegen Mann läuft viel im Kopf ab.
Was genau? Nehmen wir das Eidgenössische 2007 in Aarau als Beispiel. Sie waren Titelverteidiger und einmal mehr der grosse Favorit. Ihr erster Kontrahent war Martin Grab, ein sehr starker Gegner. Wie muss man sich die letzten Minuten vor so einem Kampf vorstellen?
Man tigert herum. Wie ein Raubtier im Käfig. In dieser Phase kann man nicht mehr still in der Ecke sitzen. Man muss die Spannung oben und die Nervosität unten halten, das ist die Kunst.
Dazu dienen Rituale. Kurz vor einem Gang haben Sie sich am Brunnen mit Wasser benetzt. Zudem sind Sie stets nach Ihrem Gegner auf den Platz gelaufen.
Und immer von der linken Seite aus. Mir selber war das alles übrigens gar nicht bewusst, bis es die Medien irgendwann mal aufgebracht haben.
Wirklich? War es nicht eine Machtdemonstration, den anderen warten zu lassen?
Nein, überhaupt nicht. Mir war es wohl so, es gab mir Sicherheit, aber ich war nicht davon abhängig, nicht abergläubisch. Lustigerweise hatte ich mal einen Gegner, der unbedingt den Spiess umdrehen wollte und einfach so lange gewartet hat, bis ich schliesslich zuerst auf den Platz lief. Ich habe das dann in einer Ruhe gemacht – und nachher beim Kampf blitzschnell auf Attacke umgestellt.
Auf dem Platz kommt es zum Blickkontakt. Worauf kommt es da an?
Auf die Art und Weise. Ich sehe einem Gegner an, wie er sich fühlt. Es ist ein bisschen wie bei den Tieren: Der schwächere Gegner schaut in der Regel schneller weg. Oder zumindest merkst du, dass es dem Gegner unangenehm ist.
Es folgt der Handschlag. Könnte man da nicht versuchen, ein grosses Selbstvertrauen vorzuspielen, etwa mit einem festen Händedruck?
Das versuchten zwar manche, aber das merkt man sofort. Zumal ich ja viele Schwinger in-und auswendig kannte, speziell die aus dem eigenen Verband. Mit einen Nöldi Forrer zum Beispiel habe ich nicht nur viele Male im Wettkampf geschwungen, sondern auch zwei Mal pro Woche trainingshalber im Schwingkeller. Irgendwann kennt man den Gegner dann so gut, dass man beim kleinsten Zucken weiss, was er vorhat.
Nach dem Händedruck geht es nur noch wenige Sekunden bis zum Kampf. Man steht nun in der Mitte des Platzes, greift sich gegenseitig an der Schwingerhose, sucht eine stabile Position.
Beim Greifen ist man sich extrem nahe. Man spürt den Puls des Gegners, hört seinen Atem, fühlt seine Körperspannung. Ich merkte jeweils sofort, wenn einer sehr nervös war, die nötige Spannung nicht aufbauen konnte. In diesen Sekunden läuft in beiden Köpfen unheimlich viel ab.
Sie suchten in der Körpersprache des Gegners gezielt nach Anzeichen von Schwächen, um diese dann auszunutzen, eine Art Killerinstinkt. Kann man den trainieren?
Ja, ich glaube schon. Ich jedenfalls habe extrem darauf geachtet und versucht, meine Wahrnehmung permanent zu verbessern. Das zeigt sich übrigens heute noch: Ich habe eine sehr gute Menschenkenntnis und merke schnell, ob sich jemand unsicher fühlt in meiner Nähe.
In Aarau haben Sie den ersten Gang gegen Martin Grab gestellt und dann die nächsten sechs Kämpfe gewonnen. Im Schlussgang setzten Sie sich gegen Stefan Fausch durch und wurden zum dritten Mal Schwingerkönig. Von aussen wirkten Sie die ganze Zeit absolut siegessicher.
Das täuscht! Gerade der Schlussgang war knallhart. Ich lag 0.25 Punkte zurück und musste deshalb unbedingt gewinnen, hatte also gewaltigen Druck. Die Zeit bis zum Schlussgang ist jeweils recht lange, etwa anderthalb Stunden, weil zuerst alle anderen Schwinger ihren achten Gang absolvieren und man erst am Ende an der Reihe ist. Es herrschte eine regelrecht erdrückende Hitze. Der Weg von der Garderobe auf den Platz war brutal, ich konnte kaum einen Fuss vor den anderen setzen.
Und in der Arena waren alle gegen Sie.
Zuschauer sind ja grundsätzlich für den Aussenseiter. Der Fausch war damals ähnlich stark, aber er war im Gegensatz zu mir noch nie Schwingerkönig geworden. Ich war zwar umgeben von 50'000 Zuschauern, erlebte aber den einsamsten Moment in meiner Karriere. Das ist mir brutal eingefahren.
Die Extremsportlerin Evelyne Binsack spricht von Energiekillern, die man in solchen Situationen entschärfen muss. Der Druck, die Hitze, die Zuschauer. Wie haben Sie es geschafft, in so einem Moment Ihre bestmögliche Leistung abzurufen?
Ich habe versucht, mich von allem völlig abzukapseln, einen Tunnelblick zu bekommen. Gleichzeitig ging im Kopf extrem viel ab: Welche Taktik wende ich an? Wie offensiv will ich in den Kampf reingehen?
Was war die Taktik gegen Fausch?
Kämpfen bis zum Letzten. Ich wusste, dass es ein Abnützungskampf wird. Zudem kannten wir einander gut, hatten schon mehrfach miteinander geschwungen.
Und dann ging es los.
Sobald der Kampf begann, war das alles weg, schoss das Adrenalin in den Körper ein. Ab diesem Moment war ich ganz in meiner Welt und konnte das machen, was ich am besten beherrschte.
Nimmt man eigentlich die Zuschauer im Kampf noch wahr?
Das ist ganz unterschiedlich. In den kurzen Pausen schon, im Kampf selber kaum. Klar, wenn sie sehr laut werden, hört man das schon, aber mich persönlich hat das nie gross interessiert.
Am Schluss wurde das Publikum sehr laut – Sie siegten in der achten Minute mit einem Überwurf.
Das war eine riesige Erleichterung …
… und zeigte: Um Schwingerkönig zu werden, müssen Selbstvertrauen, Siegeswille und Killerinstinkt müssen maximal ausgeprägt sein.
Wenn zwei Schwinger am Tag X gleich stark sind, entscheidet genau diese mentale Stärke.
Drei Jahre später konnte man beim Schwingfest in Frauenfeld sehen, was passiert, wenn einer dieser Bereiche nicht optimal ist.
Das Eidgenössische 2010 stand unter schlechten Vorzeichen. Im Jahr davor erlitt ich eine schwere Verletzung: Beide Kreuzbänder und das Innenband waren gerissen, Patellasehne und Kapsel angerissen – das Knie war in Fetzen. Es war die schwerste Verletzung in meiner ganzen Karriere.
Wie gingen Sie mental mit dieser Situation um?
Für mich war das Zurückkommen nach einer Verletzung immer vergleichbar mit dem Vorbereiten auf einen Kampf. Ich tat einfach alles dafür, dass das Bein wieder fit wurde, die Kraft wieder da war, um die Bänder zu stützen. Wettkämpfe bestritt ich erst wieder, als ich aufgrund der Trainings absolut davon überzeugt war, dass ich die nötige Sicherheit wieder hatte.
Bereits ein halbes Jahr später haben Sie wieder geschwungen.
Medizinisch gesehen war das nicht für möglich gehalten worden. Ich konnte dann aber fast beschwerdefrei in die Saison reingehen.
Trotzdem war das natürlich keine optimale Vorbereitung.
Und dann erlitt ich zwei Wochen vor dem Tag X im Training auch noch einen Hexenschuss. Das folgende Schwingfest auf der Schwägalp, die Hauptprobe für das Eidgenössische, musste ich auslassen, weil ich nicht mal aufrecht gehen konnte. In Frauenfeld war ich dann zwar gesund, aber die gewohnte Sicherheit war natürlich nicht da.
Und noch etwas kam hinzu: Sie hatten bereits entschieden, am Ende der Saison zurückzutreten.
Den Entschluss hatte ich gefasst, bevor ich die letzte Saison in Angriff genommen habe. Für mich war klar: Ein Jahr lang konnte ich diesen ganzen Aufwand nochmals leisten – nachher musste Schluss sein.
Der Start in Frauenfeld gelang Ihnen dann aber gut.
Am ersten Tag habe ich den Stucki gestellt, den heute amtierenden Schwingerkönig. Nachher folgten drei relativ hart erkämpfte Siege, die mir alles abverlangten. Am Abend war ich total ausgepowert.
Am nächsten Tag unterlagen Sie grad zum Auftakt dem späteren Schwingerkönig Kilian Wenger.
Am Sonntagmorgen ging es mir körperlich miserabel, ich musste auf allen Vieren aus dem Bett kriechen. Ich habe das damals aber nicht publik gemacht, weil ich es auf gar keinen Fall als Entschuldigung vorbringen wollte – das will ich auch heute nicht. Aber es zeigt: Um Erfolg zu haben, muss es zu hundert Prozent stimmen. Gegen den Wenger habe ich dann verloren, obwohl ich eigentlich nicht schlecht geschwungen habe.
Wie haben Sie sich danach gefühlt?
Da war dann auch eine gewisse Erlösung da, das muss ich ehrlicherweise sagen. Es ist ein Traum, Schwingerkönig zu sein – aber es ist auch eine ungeheure Belastung, es bedeutet Druck, man steht immer an vorderster Front, wird von allen gejagt.
Die restlichen drei Kämpfe haben Sie dann gewonnen.
Gegen Matthias Sempach, Thomas Sempach und Hans-Peter Pellet, allesamt sehr starke Kontrahenten. Nach diesen acht Gängen hat sich eine grosse innere Zufriedenheit eingestellt.
Obwohl sie «nur» Zweiter geworden sind.
Diese Vorzeichen, diese Gegner, diese Kämpfe – es war eine Topleistung. Deshalb sage ich heute noch: Das war die beste Leistung an einem Schwingfest, die ich je erbracht habe, obwohl am Ende nicht Platz eins rausgeschaut hat. Für mich hat es einfach gepasst.