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Michael Suter

Der Smiley auf dem Flipchart

Vor dem Start der Handball-WM herrschte Chaos pur. Doch der Schweizer Nationalcoach hatte den Tag X schon Monate lang vorbereitet.

Michael Suter, bei der Mannschaftssitzung vor dem wichtigen WM-Auftakt gegen Österreich zeichneten Sie einen Smiley auf den Flipchart. Warum?
Hinter diesem kleinen Symbol steckt eine lange Geschichte. Die Vorbereitung auf dieses Spiel war sehr speziell. Allein die 40 Stunden vor Anpfiff hätten Stoff für ein ganzes Buch geliefert.

Zwei Tage vorher um 22 Uhr erfuhren Sie und Ihr Team, dass Sie doch zur WM nach Ägypten dürfen, weil die USA wegen Corona zurückziehen musste. Tags darauf reisten die Spieler aus allen Richtungen nach Schaffhausen. Jeder musste umgehend zum Coronatest und danach in die Isolation.
Es ging drunter und drüber. Wir haben aber trotzdem unter strengsten Auflagen eine Teamsitzung gemacht, in der ich die Mannschaft auf die bevorstehenden Titelkämpfe eingestimmt habe.

Die richtige mentale Einstimmung ist matchentscheidend, wenn man am Tag X bereit sein will. Wie sind Sie vorgegangen?
Ich erzählte der Mannschaft unter anderem von Dänemark bei der Fussball-EM 1992. Dieses Team erfuhr damals ebenfalls erst kurz vor dem Turnier von ihrer Teilnahme. Die dänischen Spieler fuhren zum Teil aus dem Urlaub direkt ins Trainingslager und ritten auf einer Welle der Unbeschwertheit bis zum sensationellen Titel.

Was war das Ziel der Teamsitzung?
Druck rausnehmen. Lockerheit vermitteln. Gleichzeitig war es aber eine Gratwanderung: Für manchen Spieler war es ja vielleicht die einzige WM in seiner Karriere. Da kann es nicht das Ziel sein, zwar völlig unbeschwert aufzuspielen, aber alle Spiele zu verlieren. Die richtige Mischung war gefragt.

Fabian Cancellara erzählte in dieser Gesprächsreihe, wie er im Jahr 2012 monatelang die richtige Mischung suchte, bis er zwei Wochen vor seinem Olympia-Gold endlich in diesen Flow fand. Sie hingegen hatten nur 24 Stunden Zeit, die Mannschaft dorthin zu bringen. Eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit.
Wir hatten diese Situation natürlich länger schon im Hinterkopf. Man kann nicht einfach sagen: Am Tag X drücken wir die richtigen Knöpfe und dann ist die Mannschaft mental voll bereit. Die Qualifikation für ein grosses Turnier erstreckt sich ja über Monate, da kann man den Tag X immer ein bisschen vorwegnehmen, Stimmungen abholen, Szenarien skizzieren. Aber klar, an diesen beiden Tagen vor der WM überschlugen sich die Ereignisse, wir mussten improvisieren.

Nach einer kurzen Nacht war er da, der Tag X.
Und der Wahnsinn ging ungebremst weiter. Früh morgens in Zürich herrschte ein solches Schneechaos, dass das Flugzeug lange nicht starten konnte. In Ägypten angekommen, hetzten wir in den Bus, absolvierten die obligaten Coronatests und fuhren direkt in die Halle – nur war dort kein Gepäck. Dieses kam erst knapp eine Stunde vor Anpfiff an, völlig durchnässt in einem Lastwagen. Die Spieler um Andy Schmid sprangen auf die Rampe und wuchteten die Sachen selber in die Kabine, alle haben angepackt. Es waren unvergessliche Szenen.

Während die Uhr unerbittlich tickte. Sie hatten dann kurz vor Anpfiff nur noch ein paar Minuten Zeit, die Mannschaft mental auf das Auftaktspiel gegen Österreich einzuschwören. Worauf legten Sie den Fokus?
Darauf, die Geschichte zu Ende zu schreiben. «Wir haben schon so viel durchgemacht – das kann uns niemand mehr wegnehmen», war das Motto. Der Smiley auf dem Flipchart diente dazu, die verrückte Vorgeschichte festzuhalten. Und mit dieser guten Laune ins Spiel zu gehen. Man sollte auf dem Spielfeld merken, dass wir einen speziellen Tag gehabt haben.

Ging es in einem grösseren Sinn auch um die Geschichte des Teams, um all die letzten Jahre, in denen Sie zusammen auf dieses Ziel hingearbeitet hatten – die erste WM-Teilnahme seit 26 Jahren?
Absolut. Ein paar der Jungs kenne ich bereits von den Nachwuchsmannschaften her. Wir haben schon sehr viel miteinander erlebt – auch Schmerzliches. Auf der Taktiktafel war auch ein Herz gezeichnet, für unseren Mitspieler Dimitrij Küttel, bei dem einen Monat zuvor Lymphknotenkrebs diagnostiziert wurde.

Sie schildern eine ungeheure Ansammlung von Emotionen. Hatten Sie keine Angst, dass es zu viel wird?
Nein. Ich versuchte bewusst den ganzen Tag, ein bisschen Ruhe und Humor reinzubringen und hatte das Gefühl, die Mannschaft strahle eine gewisse Gelassenheit aus.

In der Sportpsychologie redet man vom «optimalen Leistungszustand», in den man als Athlet kommen muss, wenn es um alles geht: Man darf nicht zu locker sein, aber auch nicht zu angespannt. Diese Balance ist schon für einen einzelnen Athleten schwierig – für eine Mannschaft aber noch mehr, weil verschiedene Kräfte in ihr wirken.
Dies konnte man bei uns gut beobachten. Erfahrene Spieler wie Andy Schmid wussten natürlich: Es ist eine riesige Chance, wir müssen dieses Auftaktspiel gewinnen, damit wir in die Hauptrunde einziehen können. Aber ein paar Spieler hatten tatsächlich fast vergessen, dass es in diesem Moment um alles ging. Diese Mischung war das Erfolgsrezept.

Der Start glückte, Sie besiegten Österreich mit 28:25. Im Spiel gegen Frankreich, einer der weltbesten Mannschaften, verpassten Sie sogar nur hauchdünn eine Sensation. Fünf Minuten vor Schluss stand es unentschieden ...
... und die Franzosen nahmen eines ihrer Timeouts. Das macht man häufig, um den Gegner aus dem Rhythmus zu bringen. Deshalb war mein Ansatz: ruhig bleiben, solide weiter spielen, cool sein. Andy Schmid hingegen realisierte, dass wir wirklich gewinnen können und pushte die Jungs: «Hey, jetzt kommen die wichtigsten fünf Minuten unseres Sportlerlebens, genau dafür haben wir jahrelang trainiert!» Eine spannende Situation, die man nach dem Spiel diskutiert und die Erkenntnisse daraus in den nächsten Match nimmt.

Die Szene zeigt: Es ist nicht nur schwierig, in diese Balance zwischen Lockerheit und Anspannung zu kommen, sondern auch, sie zu halten, wenn es hart auf hart geht.
Das zeigt die Vielseitigkeit des Trainerberufs: Man beschäftigt sich intensiv mit der Vorbereitung auf den Tag X – und das Coaching während des Spiels ist dann nochmals fast eine andere Berufsgattung.

Ihr Team erreichte letztlich eine Endplatzierung in den Top 16. Ein Spitzenergebnis.
Es war eine tolle Zeit mit den Jungs in Ägypten.

Schon bald danach standen die wichtigen Spiele der EM-Qualifikation gegen Finnland auf dem Programm. Als Coach versuchten Sie da in erster Linie, die gute Stimmung aus der WM hinüberzuretten, oder?
Die Spieler konnten sicherlich eine Zeit lang davon zehren, waren aber dann ja wieder bei ihren Klubs und mit der dortigen Stimmungslage konfrontiert. Man muss zudem sehen, dass man nach so einer intensiven Zeit, wie wir sie in Ägypten hatten, auch in ein mentales Loch fallen kann. Und nicht zuletzt mussten wir einen Rollenwechsel hinkriegen: An der WM waren wir der Aussenseiter, gegen Finnland der klare Favorit.

Welche Konsequenzen zogen Sie daraus für die mentale Einstimmung?
Ich habe in der Mannschaftsbesprechung zum Beispiel über Roger Federer gesprochen, Wimbledon, 2013. Federer war natürlich haushoher Favorit. In der zweiten Runde stand ihm mit dem Ukrainer Sergej Stachowski ein totaler Aussenseiter gegenüber. Den ersten Satz gewann Federer aber nur knapp mit 7:6. Also ein mühsamer Start – das kann in so einem Spiel passieren, darauf wollte ich das Team einstellen.

Man muss als Favorit geduldig sein.
Mein eigentlicher Punkt war aber ein anderer. Wissen Sie noch, wie das Spiel weiterging?

Federer hat den zweiten Satz verloren.
6:7. Jeder dachte: Spätestens jetzt macht’s klick, und Federer erreicht schliesslich mühelos die dritte Runde, 6:1, 6:1 oder so. Es kam aber ganz anders: Er verlor auch die nächsten beiden Sätze 5:7, 6:7 und schied sensationell aus. «Das wird schon irgendwie gut gehen» – diese Haltung wollte ich gar nicht erst aufkommen lassen.

Sie wollten Konzentration.
Und Disziplin. Wir mussten nicht nur das Spiel kontrollieren, sondern auch unsere eigenen Emotionen. Gerade wenn es in so einem Spiel nicht rund läuft, können sich Kleinigkeiten der Körpersprache negativ auswirken: hier eine abfällige Handbewegung, da ein missmutiger Blick zum Mitspieler – und schon geht die Stimmung in eine falsche Richtung. Thomas Tuchel, der deutsche Fussballcoach, hat während seiner Zeit bei Mainz 05 einen beeindruckenden Vortrag zu diesem Thema gehalten, den ich meinen Spielern gezeigt habe.

Die mentale Einstimmung war erfolgreich, sie haben das Hinspiel in Finnland dominiert und mit 13 Toren deutlich gewonnen.
Nur haben wir zum Teil die falschen Schlüsse daraus gezogen: Wir haben wirklich gut gespielt, aber der Gegner hatte auch einen ganz schwachen Tag.

Das Rückspiel drei Tage später zuhause verlief denn auch ausgeglichen und harzig.
Weil wir bei den Grundtugenden – solide verteidigen, kompakt stehen, Spirit zeigen – nur noch bei 85 Prozent waren. Im Angriff haben wir es wiederum sehr gut ausgespielt, aber in der Defensive gelang es uns nicht, die nötige Spannung aufzubauen. Mit der Zeit merkte ich dann, dass ein wenig Unsicherheit aufkam.

Sie nahmen ein Timeout. Der Klassiker wäre doch in solchen Momenten, die Mannschaft wachzurütteln.
In einer Nachwuchsmannschaft wäre ich so laut geworden, dass die Wände gezittert hätten. In diesem Moment machte das aber wenig Sinn: Die aufreibende WM war noch in den Köpfen drin, der Gegner viel besser als erwartet. Die Finnen sprachen übrigens nachher selber von ihrem besten Spiel der letzten Jahre. Deshalb legte ich einen anderen Schwerpunkt: runterkommen, fokussieren.

Wie macht man das?
Indem man die Aufmerksamkeit der Spieler weg vom Resultat führt und hin zu konkreten Inhalten lenkt. So nahm ich auf der taktischen Ebene ein paar Umstellungen vor, stellte Nicolas Raemy auf den Flügel und brachte Lenny Rubin nochmals kurz rein, welcher dann auch den entscheidenden Assist verbuchte.

Unsicherheiten und eine aufkeimende Nervosität sind klassische «Energiekiller», wie das die Extrembergsteigerin Evelyne Binsack in dieser Gesprächsreihe genannt hat. Ihr Erfolgsrezept war ganz ähnlich: Fokus auf den nächsten Griff, den nächsten Schritt.
In jenem Moment waren diese taktischen Umstellungen viel zielführender als ein emotionaler Ausbruch. Wenn man als Coach das Gefühl hat, dass die Mannschaft mehr Emotionen braucht, baut man das idealerweise bereits in die Vorbereitung ein.

Wie macht man das?
Indem man zum Beispiel eine Übung absolvieren lässt, die nicht funktioniert. Im Training vor dem EM-Qualifikationsspiel 2018 gegen Serbien wurde es so hitzig, dass Wasserflaschen herumflogen. Dafür waren wir dann im Match, in dem Härte und Kampfgeist gefragt waren, zu hundert Prozent bereit.

Nun stehen gleich zwei Tage X vor der Tür, nämlich die entscheidenden Spiele gegen Dänemark und Nordmazedonien in der EM-Qualifikation. Welchen Kontakt haben Sie einen Monat davor bereits zur Mannschaft, um sie auf diese Spiele einzuschwören?
Ich schaue mir natürlich alle Matches von meinen Spielern genau an und gebe ein Feedback zur aktuellen Leistung sowie zur Entwicklung. Wenn ich merke, dass es einem Spieler nicht so gut läuft, rufe ich kurz an und bespreche das.

Wissen Sie bereits, was Sie tun werden, wenn die Spieler dann da sind?
Nein, das hängt letztlich auch von Faktoren ab, die jetzt noch unklar sind: Welche Spieler sind in Hochform? Wer hat grad eher ein Tief? In welcher Stimmung trifft das Team zusammen? Welche Taktik verfolgen wir? Wie wollen wir als Mannschaft auftreten? Das ist ein Mosaik, das sich in den Tagen der Vorbereitung Stück für Stück zusammensetzt. Am Schluss resultieren daraus wieder 3-4 Gedanken, die ich zur mentalen Einstimmung an die Mannschaft richten werde.

Die Fragen.

Wie ist man am Tag X mental bereit?

Um bei einer WM, an Olympia oder sonst einem wichtigen Wettkampf erfolgreich zu sein, reicht es nicht, sich körperlich perfekt vorzubereiten. Doch was muss man tun, damit man auch mental voll bereit ist?

Jan Rauch

Ziel ist der optimale Leistungszustand

Heisst: Nicht zu angespannt, aber auch nicht zu entspannt. Sondern genau in der Balance.

Fabian Cancellara

Das hat eine kleine Explosion im Kopf ausgelöst

Wie eine Staumauer, die gebrochen ist, sagt er. Erst jetzt konnte er alle Emotionen in ein einziges Thema kanalisieren: das Kapitel Olympia mit der Goldmedaille beenden.

Evelyne Binsack

Negative Gedanken und Gefühle sind Energiekiller

Vielmehr sollte man den Fokus immer auf den nächsten Schritt legen. Bei der Alpinistin im wahrsten Sinne des Wortes.

Jörg Abderhalden

Ich spürte den Puls des Gegners, hörte seinen Atem

Und merkte sofort, wenn er nicht die nötige Spannung hatte. Diese Wahrnehmung muss man aber trainieren.

Michael Suter

Der Smiley auf dem Flipchart

Vor dem Start der Handball-WM herrschte Chaos pur. Doch der Schweizer Nationalcoach hatte den Tag X schon Monate lang vorbereitet.

Alle Gespräche in einem Band

Um bei einer WM, an Olympia oder sonst einem wichtigen Wettkampf erfolgreich zu sein, reicht es nicht, sich körperlich und taktisch perfekt vorzubereiten. Doch was muss man tun, damit man auch mental voll bereit ist?