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Evelyne Binsack

Negative Gedanken und Gefühle sind Energiekiller

Vielmehr sollte man den Fokus immer auf den nächsten Schritt legen. Bei der Alpinistin im wahrsten Sinne des Wortes.

Evelyne Binsack, Ihre Expeditionen dauerten zum Teil mehrere Monate. Gab es trotzdem jeweils einen Tag X, auf den die ganze mentale Vorbereitung ausgerichtet war?
Auf den Tag 1. Wenn man zu einer Expedition aufbricht, muss bereits mentale Energie für das ganze Unterfangen vorhanden sein, sonst geht es nicht.

Energiereserven kennt man ja in Bezug auf das Gewicht, Sie nahmen mal vor einer Expedition bewusst 12 Kilogramm zu. Wie aber legt man einen mentalen Vorrat an?
Ich habe mich ja immer wieder gewandelt: Zuerst war ich Alpinistin, dann wurde ich Sportkletterin, nachher Höhenalpinistin, schliesslich Weitreisende mit Schlittenexpeditionen. Aber die mentale Vorbereitung beginnt immer mit denselben Fragen: Was will ich überhaupt? Wie will ich meine Bedürfnisse ausdrücken? Was will ich erleben? Und dann kommt man manchmal auf verrückte Ideen.

Zum Beispiel als erste Schweizerin den höchsten Berg der Welt zu besteigen. Das war 2001. Wie bereiteten Sie sich vor?
Zuerst musste ich mich entscheiden, ob ich von Süden oder von Norden her auf den Gipfel will. Auf der Südseite hat man einen steilen Aufstieg, den Khumbu-Eisfall, die Lhotse-Flanke. Auf der Nordseite ist es alpinistisch schwieriger, man ist auf dem Grat länger den extremen Höhen ausgesetzt, muss auf 8’400m Höhe nochmals ein Biwak machen, es ist windig und kalt. Eher die düstere Seite des Berges. Genau diese Wildheit wollte ich damals erleben, deshalb entschied ich mich für die Nordseite. In der nächsten Phase setzte ich mich dann vertieft damit auseinander, wer der Everest ist.

Wie meinen Sie das?
Jeder Berg hat einen ganz eigenen Charakter – abhängig davon, welchen Rhythmus das Wetter hat, wann Eisabbrüche und Lawinen drohen oder wo die grossen und gefährlichen Gletscherspalten sind. Mit der Zeit lernt man den Charakter eines Berges so gut wie den Charakter eines Menschen kennen. Man erkennt dann auch, wann er wütend ist und sich nicht besteigen lässt.

Woher holten Sie sich diese Informationen?
Aus Büchern von Menschen, die schon oben gewesen sind. Dabei interessierte mich gar nicht so sehr, wie sie nun die Schlüsselpassagen technisch genau gemeistert hatten. Vielmehr faszinierte mich ihr Erleben: Wie haben sich diese Alpinisten am Berg gefühlt?

Das erinnert mich an die «Gefühlsbereitschaft», die laut Fabian Cancellara im Laufe einer mentalen Vorbereitung einsetzen muss, damit man ganz in ein Projekt eintauchen kann.
Diese ungeheure mentale Energie, die für ein solches Unterfangen nötig ist, die muss sich aus den Gefühlen speisen, anders geht das gar nicht. Viele sind ja der Meinung, dass Bergsteigen eine Sucht ist. Das stimmt eben nicht! Es ist vielmehr eine Art Liebesbeziehung, die man mit dieser Tätigkeit eingeht.

Nach Monaten dieser Vorbereitung kam dann der Tag X mit der Ankunft im Everest-Basislager. In welcher mentalen Verfassung waren Sie?
Es war eine Mischung. Einerseits machte mich der Mythos Everest demütig. Andererseits fühlte ich mich unbesiegbar und spürte eine spezielle Art der Unverwüstlichkeit.

Die bereits kurze Zeit später auf die Probe gestellt wurde.
Bei der Akklimatisation war ich zu ehrgeizig, liess mir zu wenig Zeit und erlitt eine Höhenkrankheit.

Wie fühlte sich das an?
Wie Drachen im Kopf, die wüten. Als Kind hatte ich Asthma – und deshalb später Mühe in einer Höhe ab 7'500 Metern. Das wusste ich aber damals am Everest noch nicht. Ich stieg dann vom Lager 2 auf 7'800 Metern Höhe wieder ins Basislager ab. Zwei Tage später machte ich einen Testlauf bis auf 7'000 Meter hinauf – und ging ab wie eine Rakete.

Die grösste Herausforderung stand Ihnen allerdings erst noch bevor.
Am Nordgrat hat es drei Felsstufen, wovon zwei zum Klettern sehr technisch sind. Am Second Step in einer Höhe von rund 8'600 Metern ist es dann passiert. Es war Morgengrauen, ich hing in einer senkrechten Wand, alles Schieferfels – und hatte keine Ahnung, wie ich diese Felsstufe überwinden könnte. Was mir hingegen klar war: Jeder kleinste Fehler würde mit einem Absturz von 3'000 Metern in den Tod enden. Also bin ich wieder runter in eine Nische – und sah gegenüber den «Waving Man».

Eine mittlerweile zu Eis erstarrte Leiche eines Bergsteigers, die einem scheinbar zuwinkt.
Es war eine skurrile Szenerie ...

... die mentale Stärke erforderte. Unsicherheiten solle man nicht ignorieren, sondern in Energie umwandeln, sagten Sie mal. Was bedeutete das konkret in dieser Situation?
Zunächst einmal keine negativen Gedanken und Gefühle zuzulassen. Weil sie energetisch ungemein teuer sind.

Allerdings auch sehr dominant. Was kann man solchen Energiekillern wie Unsicherheit oder gar Angst entgegenhalten?
Den nächsten Griff. In solchen Momenten muss man sich voll und ganz auf die Aufgabe fokussieren. Beim Second Step tat ich genau dies: Ich stieg drei Mal ein bisschen weiter rauf und wieder runter – bis ich wusste, in welche Ritze ich meine Steigeisen sicher platzieren konnte, damit ich die nötige Balance hatte, um es über die Felsstufe zu schaffen.

Manchmal ist ein Unterfangen jedoch trotz grösster Anstrengungen zum Scheitern verurteilt. 2017 gingen Sie zum Nordpol, wobei Sie die Expedition in vier Etappen unterteilten. Die dritte Etappe, eine Solo-Durchquerung von Spitzbergen, mussten Sie abbrechen. Was ging dort schief?
In den ersten zwei Tagen der Expedition herrschten bereits ungemütliche Wetterbedingungen: Eisige Temperaturen, starke Winde und sogenanntes Whiteout, wenn sich also der milchig weisse Himmel nahtlos mit dem Schneeboden vermischt und sämtliche Konturen verschwinden lässt. Am dritten Tag kündigte sich zu allem Übel noch ein kräftiges Tief mit Temperaturen von bis zu minus 55 Grad und einem arktischen Sturm mit 200 km/h an. Als die Prognosen mittelfristig keine Besserung versprachen, beschloss ich, die Etappe abzubrechen. Ich hätte schliesslich nicht nur mich in Gefahr gebracht, sondern auch die Helfer, die mich am Nordzipfel von Spitzbergen mit dem Schneetöff hätten retten müssen.

Sie kehrten früher als geplant nach Hause zurück. Wie sind Sie mit diesem Scheitern umgegangen – im Wissen, dass schon einen Monat später die vierte, schwere Schlussetappe zum Nordpol bevorstand?
Ursprünglich wollte ich diese letzte Etappe ja ebenfalls solo bestreiten. Ich spürte aber, dass ich mich in dieser kurzen Zeit mental nicht mehr aufbauen konnte und beschloss deshalb, mich einem Team anzuschliessen. Für mich persönlich lag darin das grosse Scheitern, weil ich zugeben musste, dass ich es allein nicht schaffe. Der Abbruch der dritten Etappe hingegen war gar nicht so sehr ein Problem.

Warum nicht?
Beim Scheitern wird meiner Meinung nach häufig zu wenig differenziert. Wenn man aufgibt, nur weil es mühsam und streng ist, scheitert man als Verlierer. Wenn man aber alles gegeben hat, was möglich war, bis an seine Grenzen gegangen ist, dann scheitert man als Gewinner. Auf Spitzbergen etwa war ich an meinen Grenzen und spürte dort eine Art verdichteter Energie, die mir klar machte: Wenn ich weitermache, passiert ein Unglück. Jetzt gibt es nur noch eins – abbrechen, umkehren. Dieses Scheitern wertete ich deshalb als Erfolg.

Der Eishockey-Coach Arno Del Curto sagte mir mal, dass er Misserfolge immer erst dann mit der Mannschaft analysiert habe, wenn es ihr wieder gut lief, vorher habe man als Spieler den Kopf nicht frei dafür.
Eine Mannschaft kann sich ein Stück weit hinter ihrem Trainer verbergen, der das ganze Gewicht auf sich nimmt. Das hat Arno ja auch immer sensationell gemacht. Das ist bei mir aber anders. Jeder Tag, an dem ich dieses Scheitern verdrängt hätte, hätte einen enormen Energieverlust zur Folge gehabt.

Einen dramatischen Energieverlust hatten Sie bei der «Expedition Antarctica» im Jahr 2007. Damals waren Sie 484 Tage und 25'000 Kilometer unterwegs, mit dem Fahrrad, auf Skiern und zu Fuss. Kurz vor dem Südpol kämpften Sie gegen den Erschöpfungstod.
Ich hatte Hunger, mir war extrem kalt, und ich war vollkommen erschöpft. Und meine innere Stimme hämmere mir genau das ein, immer und immer wieder – ein riesiger Energiekiller. Diesem Monolog musste ich ein Ende setzen. Ich hätte mich zu diesem Zeitpunkt auch in den Tod begeben können. Er war sehr präsent, sehr nahe. Und dann stellt sich die Frage: Wie viel Energie kannst du bereitstellen, um das abzuwenden?

Wie haben Sie überlebt?
Mit beten. Drei Tage lang, ohne Pause. Mit diesen Gebeten habe ich den Geist abgelenkt. So wie ein Mönch. Du betest dann nicht mehr, sondern wirst selber zum Gebet. Und wenn du zum Gebet wirst, spürst du keinen Schmerz mehr, keinen Hunger, keine Erschöpfung. Das andere Programm läuft zwar immer noch ab, aber nur ganz abgeschwächt im Hintergrund – du kannst ja nicht zwei Gedanken gleichzeitig haben.

Glücklicherweise waren Sie am Südpol nicht alleine unterwegs, sondern hatten ein Team, das Sie unterstützt hat.
Das war überlebenswichtig. Es gibt das schöne Wort «copain», wörtlich bedeutet es «mit jemandem das Brot teilen». Am Südpol teilten wir unsere Kräfte. Wobei das ja eine schwierige Vorgeschichte hatte. Einer klaute mir zuvor mein Schokoladenpulver, ein anderer hatte die Notration gegessen. Insofern war das eine kleine Wiedergutmachung durch das Team – das sage ich natürlich mit einem Augenzwinkern.

Sie haben jetzt drei Extremsituationen geschildert. Der Kern Ihrer Handlungen bestand immer darin, grosse Energiekiller wie Unsicherheit, Angst, Scheitern oder gar totale Erschöpfung zu entschärfen, um Ihre Energiereserven zu schützen. Kann man diese mentale Stärke trainieren?
Ja. Indem man für sich herausfindet, was man jeweils ganz konkret tun kann, um seine Energiereserven zu schützen. Und das dann in der Vorbereitung auf den Tag X auch trainiert. Solche Gebete zum Beispiel, die spreche ich nicht erst in Extremsituationen, sondern auch mal drei Stunden lang bei einer Trainingstour.

Gab es bei Ihnen auch mal die Situation, dass Sie sich Monate lang auf einen Tag X vorbereitet haben – und dann trotzdem mental nicht bereit waren?
Ja, bei der Expedition zum Gasherbrum II, zwei Jahre nach meiner Rückkehr vom Südpol. Ich kletterte bereits wieder Routen im höchsten Schwierigkeitsgrad und wollte das Kapitel Höhenalpinismus mit diesem Achttausender für mich abschliessen. Doch bereits im Vorfeld stellte ich irritiert fest, dass sich keine Vorfreude aufgebaut hatte, keine positive Anspannung. Stattdessen verspürte ich im Basislager Unlust, Herzrasen, hatte Schweissausbrüche in der Nacht. Da wurde mir klar, dass ich das Zelltrauma vom Südpol noch nicht verarbeitet hatte. Mein vegetatives Nervensystem lief Amok, weil ich zu wenige Energiereserven hatte, um einen Achttausender zu besteigen.

Ihr mentaler Energievorrat reichte nicht aus.
Nach zehn Tagen habe ich die Expedition abgebrochen.

Die Fragen.

Wie ist man am Tag X mental bereit?

Um bei einer WM, an Olympia oder sonst einem wichtigen Wettkampf erfolgreich zu sein, reicht es nicht, sich körperlich und taktisch perfekt vorzubereiten. Doch was muss man tun, damit man auch mental voll bereit ist?

Jan Rauch

Ziel ist der optimale Leistungszustand

Heisst: Nicht zu angespannt, aber auch nicht zu entspannt. Sondern genau in der Balance.

Fabian Cancellara

Das hat eine kleine Explosion im Kopf ausgelöst

Wie eine Staumauer, die gebrochen ist, sagt er. Erst jetzt konnte er alle Emotionen in ein einziges Thema kanalisieren: das Kapitel Olympia mit der Goldmedaille beenden.

Evelyne Binsack

Negative Gedanken und Gefühle sind Energiekiller

Vielmehr sollte man den Fokus immer auf den nächsten Schritt legen. Bei der Alpinistin im wahrsten Sinne des Wortes.

Jörg Abderhalden

Ich spürte den Puls des Gegners, hörte seinen Atem

Und merkte sofort, wenn er nicht die nötige Spannung hatte. Diese Wahrnehmung muss man aber trainieren.

Michael Suter

Der Smiley auf dem Flipchart

Vor dem Start der Handball-WM herrschte Chaos pur. Doch der Schweizer Nationalcoach hatte den Tag X schon Monate lang vorbereitet.

Alle Gespräche in einem Band

Um bei einer WM, an Olympia oder sonst einem wichtigen Wettkampf erfolgreich zu sein, reicht es nicht, sich körperlich und taktisch perfekt vorzubereiten. Doch was muss man tun, damit man auch mental voll bereit ist?