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Jan Rauch

Ziel ist der optimale Leistungszustand

Heisst: Nicht zu angespannt, aber auch nicht zu entspannt. Sondern genau in der Balance.

Jan Rauch, die Eishockey-WM in der Schweiz steht vor der Tür (sie wurde später abgesagt), nachher finden die Olympischen Spiele in Tokio statt. Was kann ein Athlet im mentalen Bereich jetzt schon tun, um am Tag X voll bereit zu sein?
Sehr viel. Mentaltraining zielt immer auf den optimalen Leistungszustand ab. Das ist ein mentaler Zustand, der genau das richtige Mass an Anspannung beinhaltet, um Spitzenleistungen zu erzielen. Ist der Athlet zu entspannt oder zu angespannt, kann er sein Leistungspotential nicht ausschöpfen – gerade am Tag X.

Unterscheidet sich die optimale Anspannung von Sportart zu Sportart?
Da gibt es ein breites Spektrum. Sportschützen benötigen eine ruhige Hand, das erfordert einen niedrigen Spannungsgrad. Bobfahrer hingegen brauchen eine sehr hohe Anspannung. Aber es gibt auch innerhalb einer Sportart beträchtliche Unterschiede. Schauen Sie nur mal die Topspieler im Tennis an.

Roger Federer wirkt immer ruhig und cool, Rafael Nadal dagegen scheint seine Bestleitung nur unter Starkstrom abrufen zu können.
Und je nach Tagesform kann es innerhalb eines Athleten variieren. Auch Roger Federer hat Tage, an denen er heiss laufen und sich antreiben muss, um an seine Leistungsgrenze zu gelangen.

Wie findet man seinen optimalen Leistungszustand heraus?
In der Regel kann man das mit der Zeit recht gut einschätzen. Wenn ich mit jungen Athleten arbeite, dann frage ich sie: Wann hast du dich zuletzt im Training oder Wettkampf besonders gut gefühlt?

Und was genau meinen Sie damit?
Wer sich in seiner Zone des optimalen Leistungszustands befindet, der kann sich konzentrieren und auf die aktuelle Herausforderung fokussieren, befindet sich im Hier und Jetzt, hat eine positive Grundstimmung, bleibt auch bei Problemen dran – und fühlt sich deshalb gut und bereit.

Angenommen, man habe als Athlet seine ideale Zone gefunden. Was kann man heute trainieren, um dann drei Monate später, am Tag X, mental voll bereit zu sein?
Jetzt muss man ausgewählte Mentaltechniken einüben, damit man sich gezielt in diesen Zustand bringen kann. Mentaltechniken sind sozusagen die Regler zwischen Anspannung und Entspannung, die muss man bedienen können. Das kann man aber nicht erst drei Wochen vor dem Wettkampf trainieren, dann ist es zu spät.

Welche Mentaltechniken gibt es?
Die drei Grundtechniken des Mentaltrainings sind Atemtechnik, Selbstgespräche und Visualisierung.

Wie bringt man sich mit der Atmung in einen optimalen Leistungszustand?
Ich hatte die Bobfahrer angesprochen, die eine sehr hohe Anspannung brauchen, bevor sie mit 140km/h durch den Eiskanal fahren. Haben Sie schon mal Bobfahrer unmittelbar vor dem Start beobachtet?

Sie ballen die Fäuste, feuern sich gegenseitig an ...
... und atmen häufig ein paar Mal kräftig und tief durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus. Auch Sprinter aktivieren sich durch die Atmung, Schwinger vor ihren Gängen. Häufiger ist man jedoch über seinem optimalen Leistungszustand und muss sich durch eine langsame Atmung beruhigen: Sportschützen vor dem Abfeuern, Fussballer vor dem Elfmeter, Tennisspieler zwischen den Ballwechseln.

Das muss schnell gehen, Tennisspieler haben nicht einmal 30 Sekunden Zeit.
Deshalb müssen sie monatelang Abläufe trainieren, um diese dann im Wettkampf auch unter hohem Druck anwenden zu können. Das ist übrigens bei den Selbstgesprächen ähnlich, da übt man kurze, positive Instruktionen ein: «Rückhand durchziehen», «positive Körperhaltung», «Druck machen».

Sowohl die Atemtechnik als auch Selbstgespräche sind Mentaltechniken, mit denen die Anspannung innert Sekunden reguliert werden kann. Wo reiht sich da das Visualisieren ein?
Visualisieren meint grundsätzlich mal, sich Bilder im Kopf vorzustellen. Nehmen wir wieder den Eishockeyspieler drei Monate vor den Weltmeisterschaften. Er kann sich zum Beispiel vorstellen, wie er nach einem Sieg zusammen mit seinen Teamkameraden auf dem Eis steht und die Schweizer Nationalhymne hört.

Das motiviert.
Er kann sich aber auch vorstellen, wie er beim Startspiel auf dem Eis steht, eine positive Körpersprache ausstrahlt und sich voller Energie, wohl und bereit fühlt. Je häufiger er solche Situationen vorher mental durchspielt, desto grösser ist die Chance, dass er dann am Tag X auch tatsächlich in die Zone seines optimalen Leistungszustands kommt.

Wenn die Russen, der erste Gegner im Turnier, nach Anpfiff zu dritt auf den Verteidiger losstürmen, ist er vermutlich aber trotzdem schnell raus aus diesem Kanal.
Auch darauf kann er sich mental vorbereiten. Ich bleibe beim Visualisieren. In diesem Fall könnte er sich zum Beispiel den Spielaufbau vorstellen, wie er den Pass genau in den Lauf des Mitspielers spielt und dann selber schnell aus der eigenen Zone fährt. Das macht er immer und immer wieder – bis er den Film problemlos abspielen kann.

Das klingt zwar plausibel, aber gibt es auch wissenschaftliche Belege zur Wirksamkeit der Visualisierung?
Ja. Gut belegt ist zum Beispiel der sogenannte Carpenter-Effekt. Dieser besagt, dass die blosse Vorstellung einer Bewegung mit geringen Muskelkontraktionen und einer minimalen Bewegung einhergeht. Aus der Hirnforschung weiss man zudem: Wenn man sich etwas intensiv vorstellt, sind dieselben Hirnareale aktiv, wie wenn es Realität wäre. Je öfter ich das mache, desto stabiler werden diese Synapsen. Teile des Bewegungsablaufs lassen sich damit automatisieren.

Was bedeutet das in Bezug auf den Eishockeyspieler?
Er ist unter Druck nicht mehr so anfällig für Störungen. Und er spart Energie, die er beispielsweise dafür einsetzen kann, seine Aufmerksamkeit vermehrt auf die Laufwege der Mitspieler zu richten.

Szenenwechsel, der Tag X ist da. Noch eine Stunde bis zum Wettkampf. Man ist aufgewärmt, sitzt in der Kabine. Was ist nun das Wichtigste aus sportpsychologischer Sicht?
Je näher der Wettkampf rückt, desto stärker werden die Zugkräfte, die es mir erschweren, in den optimalen Leistungszustand zu kommen. Manche Athleten blockieren in Folge des hohen Drucks und verfallen in Lethargie. Die meisten jedoch überpowern und müssen ihre Anspannung so schnell wie möglich herunterregulieren.

Wie geht das?
Ein Königsweg sind Rituale. Eishockeyspieler präparieren ihren Stock, Tennisspieler ihr Racket, es sind immer dieselben Handgriffe und Abläufe. Die Folge: Man ist im Hier und Jetzt, ganz fokussiert und kann so die Anspannung herunterfahren.

Noch fünf Minuten bis zum Anpfiff. Das Stadion ist ausverkauft, die Fans sind laut, die Atmosphäre aufgeladen. Alles enorm starke Zugkräfte, die einen Athleten aus der Zone des optimalen Leistungszustands reissen können.
Wenn Zuschauer da sind, dann macht das etwas mit Athleten. Grundsätzlich bringt man bessere Leistungen, wenn man beobachtet wird oder sich in einem Wettstreit mit anderen befindet – das nennt sich «social facilitation». Ist aber die Angst vor dem Scheitern zu gross, verschlechtert sich die Leistung sogar, wenn Publikum da ist ­– das nennt man dann «social inhibition».

«Let’s make history» heisst die Kampagne rund um die Eishockey-WM. Mehr Erwartung geht fast nicht.
Ralph Krueger sprach ja 2009 bei der letzten WM im eigenen Land sogar von einem «Heimnachteil». Dafür wurde er von den Medien auch stark kritisiert.

Zurecht?
Man kann davon ausgehen, dass Coaches die Mentalität ihrer Mannschaft sehr gut kennen. Krueger wollte damals vielleicht die Erwartungen runterschrauben. Patrick Fischer und sein Team hingegen wissen, dass die Spieler heute sehr selbstbewusst sind, dann geht so eine Kampagne natürlich eher.

Nochmals Szenenwechsel: Anpfiff! Aber die Beine fühlen sich schwer an, der Gegner erzielt ein frühes Tor, die Zuschauer werden unruhig.
In Krisensituationen muss man versuchen, so schnell wie möglich wieder in den optimalen Leistungszustand zu kommen. Dafür gibt es ganz spezifische Techniken. Im Tennis wenden viele Spieler die Methode «16 Seconds Cure» an, das ist eine spezielle Konzentrationstechnik.

Wie läuft das ab?
Nehmen wir an, der Spieler hat grad einen leichten Ball verschlagen und Breakball gegen sich. Bis zum nächsten Aufschlag nimmt er sich nun rund 16 Sekunden Zeit, um vier Schritte durchzuführen.

Die Zeit läuft.
Erstens: Positive Reaktion. Kopf hoch, aufrechter Gang zum Handtuch, Schweiss abputzen, Szene abhaken. Zweitens: Entspannung. Hier könnte jetzt die Atemtechnik zum Zug kommen: langsam ausatmen, während man auf sein Racket schaut, vielleicht kurzes Selbstgespräch. Drittens: Vorbereitung. Fokussieren auf den nächsten Punkt: Wohin schlage ich auf? Rücke ich ans Netz vor oder nicht? Viertens: Rituale. Dazu gehören die genauen Abläufe beim Aufschlag. Bei Nadal sieht man übrigens, dass hierbei die Grenzen zu Ticks und Aberglauben fliessend sind.

Im Grunde werden allein in diesen 16 Sekunden eine Reihe verschiedener Mentaltechniken ersichtlich: Atmung, Selbstgespräche, Visualisierung ...
Das ist häufig so. Ein Athlet beschränkt sich nicht einfach auf die Atemtechnik oder das Visualisieren, sondern kombiniert diese Techniken je nach sportlicher Herausforderung und versucht so, sein ganz individuelles Erfolgsrezept zu finden.

Ich fasse zusammen: Muss man die für sich passenden Mentaltechniken finden und über Monate trainieren, damit man sie dann am Tag X auch unter Druck anwenden kann.
Für das mentale gilt wie für das körperliche Training: üben, üben, üben. Erst im Training, dann im Wettkampf, schliesslich bei einem Grossanlass. Federer, Djokovic und Nadal haben alle diese Stufen während Jahren durchlaufen.

Geben Sie uns zuletzt noch einen Sinn für Proportionen mit: Ist die mentale Leistungsstärke im Sport mehr als die halbe Miete? Jetzt müssen Sie als Sportpsychologe natürlich fast ja sagen ...
... nicht uneingeschränkt, man muss den Breiten- vom Spitzensport unterscheiden. Mein Talent als Tennisspieler hätte niemals ausgereicht, um Wimbledon zu gewinnen, da hätte ich mental noch so stark sein können. Anders sieht es im Spitzensport aus, weil dort die Athleten körperlich und technisch alle auf Topniveau sind. Da gehe ich sogar von mehr als 50 Prozent aus, die der Kopf ausmacht. Ich bin überzeugt: Letztlich entscheidet dort häufig die mentale Stärke über Sieg und Niederlage.

Die Fragen.

Wie ist man am Tag X mental bereit?

Um bei einer WM, an Olympia oder sonst einem wichtigen Wettkampf erfolgreich zu sein, reicht es nicht, sich körperlich und taktisch perfekt vorzubereiten. Doch was muss man tun, damit man auch mental voll bereit ist?

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