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Thomas Müller

«Was hat der Täter getan, was er nicht hätte tun müssen?»

Diese nicht-erforderlichen Entscheidungen sagen viel über die Bedürfnisse eines Täters aus. Und über seine Gefährlichkeit, sagt der Kriminalpsychologe Thomas Müller.

Herr Müller, Sie haben schon über tausend Tötungsdelikte analysiert. Weshalb ist ein Tatort für Sie besonders aufschlussreich?
Weil jeder Mensch im Prinzip das Recht hat, die Unwahrheit zu sagen. Aber es gibt einen Moment, wo er das nicht tut: Wenn er Entscheidungen trifft, die für ihn relevant sind. In diesen Entscheidungen drückt er seine persönlichen Bedürfnisse aus. Als Kriminalpsychologe interessiert mich nun nicht das Verhalten im Alltag, sondern das schwere Verbrechen. Deswegen ist der Tatort so interessant, dort zeigen sich die Bedürfnisse des Täters.

Bei leichteren Delikten werden Sie nicht beigezogen?
Die Art und Weise, wie Sie einer alten Frau die Handtasche entreissen, hat in der Regel zu wenig Aussagekraft, um etwas über Ihre Persönlichkeit auszusagen. Weil die Fantasie in den seltensten Fällen eine Rolle spielt.

Bei einem Tötungsdelikt analysieren Sie nicht nur die Tötung selber, sondern das ganze Tatverhalten. Wann genau beginnt dieses, wann endet es?
Es beginnt in jenem Moment, in dem der Täter entscheidet, Kontakt zum Opfer aufzunehmen und Kontrolle über es zu gewinnen. Weil er genau dann beginnt, von der Planungs- in die Realisierungsphase überzugehen. Und vor allem endet das Tatverhalten nicht, wenn das Opfer getötet wurde – sondern dann fängt es sozusagen erst richtig an.

Inwiefern?
Der Täter muss ja noch eine ganz zentrale Entscheidung treffen: Was macht er, nachdem er die Person umgebracht hat? Wenn wir tausend Tatorte von sexuellen Tötungsdelikten anschauen, finden wir keine zwei, die genau gleich sind. Für mich als Kriminalpsychologe sind diese Entscheidungen, die er bei der Ablage des Opfers trifft, unglaublich wichtig.

Sie haben mal gesagt, ein Täter müsse Dutzende von Entscheidungen treffen. Können Sie etwas näher ausführen, was das für Entscheidungen sind?
Das hängt ganz davon ab, von welchem Delikt wir sprechen. Ist es ein Tötungsdelikt oder nicht? Falls ja, ist es ein sexuelles Tötungsdelikt oder nicht? Und so weiter. Ich kann Ihnen aber zum Beispiel sagen, nach welchen Entscheidungen ich grundsätzlich bei einem Tötungsdelikt suche. Wenn Sie eine Person umbringen wollen, müssen Sie drei Kernentscheidungen treffen. Erstens: Wen wollen Sie töten? Die Auswahl des Opfers sagt schon sehr viel über die motivationale Ebene des Verbrechens aus. Und hier werden von der Polizei manchmal schon schwerwiegende Fehlinterpretationen durchgeführt.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Es gab den Fall eines Serientäters in Deutschland. Man nahm an, dass nur junge Mädchen die Opfer waren. Im Zuge der Aufarbeitung vieler Delikte kam auch der Fall eines ermordeten Knaben auf den Tisch. Nun gab es sofort Stimmen, die sagten: Jemand, der junge Mädchen umbringt, bringt keine Knaben um. Aber selbstverständlich stimmt das nicht. Denn Täter suchen ihre Opfer nicht primär nach objektiven Merkmalen wie Alter, Grösse, Gewicht, Haarfarbe, Augenfarbe oder eben Geschlecht aus, sondern nach ihrer eigenen Risikobeurteilung. Kinder und alte Menschen sind am leichtesten kontrollierbar. Und wenn die Fantasie nicht explizit auf bestimmte objektive Merkmale abzielt, dann kann derselbe Täter sowohl Mädchen als auch Knaben umbringen.

Wenn ich das Opfer ausgewählt habe – welche beiden Kernentscheidungen muss ich noch treffen?
Die zweite ist: Wie genau bringe ich den Menschen um? Diese Entscheidung steht oft mit jener der Opferauswahl in enger Verbindung. Bei Prostituieren ist die häufigste Todesursache ein Angriff gegen den Hals. Am zweithäufigsten ist Erstechen. Wenn das Opfer hingegen ein Kleinkind ist, steht Erstechen statistisch erst an siebzehnter Stelle, die häufigste Todesursache dort ist Ersticken. Und die dritte Entscheidung ist: Was mache ich, nachdem ich das Opfer umgebracht habe? Lasse ich es liegen, grabe ich es ein, verbrenne ich es oder stecke ich es in ein Säurefass?

Und diesen Kernentscheidungen folgen weitere Entscheidungen, sodass es am Ende eben Dutzende sind.
Genau. Bei der Ablage des Opfers zum Beispiel: Habe ich mir im Vorfeld überlegt, wo ich sie hinlege oder erst nachher? Woher nehme ich die Zweige, den Beton, das Wasser, den Kübel, die Säure? Wenn Sie jetzt eine Tatortanalyse machen, versuchen Sie, alle diese objektiven Tatbestandmerkmale nach solchen Entscheidungen abzusuchen und diese wie in einem Puzzle zu einem zusammenhängenden Ganzen zusammenzusetzen.

Da Sie zeitgleich an vielen Fällen aus der ganzen Welt arbeiten, können Sie nicht selber vor Ort sein und müssen deshalb mit Fotos der Tatorte arbeiten. Erschwert das Ihre Arbeit?
Das ist tatsächlich ein wichtiger Punkt. Früher, in den 60er und 70er Jahren, hatte ein Tatortfotograf eine klare Meinung, was die Kriminalisten brauchen, nämlich einen unverstellten Blick auf die Leiche. Nicht selten wurde ein zugedecktes Opfer wieder aufgedeckt und dann erst fotografiert. Was er aus der Sicht des Kriminalpsychologen zerstört hat, wusste er damals nicht: Das Zudecken der Leiche sagt unter Umständen viel mehr über den Täter aus als die Art und Weise, wie er es umgebracht hat.

Wie sehen ideale Tatortfotos aus?
Ein mehr oder weniger «eingefrorener» Tatort hilft grundsätzlich allen beteiligten Disziplinen. Für die Fotos gilt: Von der Gesamtheit ins Detail. Ich brauche eine Gesamtaufnahme vom Haus, in dem die Tat stattfand, dann die Eingangstüre, dann zur Türe, hinter der das Ganze passiert ist, dann eine Gesamtaufnahme des Zimmers und so weiter. Eine der schlimmsten Dinge, die Sie tun können bei der Tatortanalyse, ist, nach drei Minuten bereits die ersten Bilder von der Leiche vor sich zu haben, denn dann vergessen Sie alles andere. Sie müssen sich der Sache ganz langsam nähern.

Sie lassen jedes verfügbare Detail des Tatverhaltens in Ihre Analyse einfliessen. Könnte ein Täter, dem dies bewusst ist, den Tatort manipulieren?
Natürlich ist es möglich, etwas vorzutäuschen. Aber Sie werden verstehen, dass ich Ihnen darüber keine Einzelheiten verrate, weil ich nichts zu einem Weissbuch für kriminelles Verhalten beitragen möchte. Was ich sagen kann: Wenn Täter beginnen, einen Tatort zu verändern, verändern sie ihn so, wie sie glauben, wie er auszusehen hat. Und das ist der springende Punkt.

Das leuchtet ein. Aber gibt es auch natürliche Veränderungen des Tatverhaltens, gerade wenn jemand über eine längere Zeit hinweg Verbrechen begeht?
Es gibt den Ausdruck des Modus Operandi – kurz MO, das ist die Art und Weise, wie die Menschen eine Tat begehen. Dieser MO kann sich tatsächlich verändern: weil die Täter älter werden, aber auch, weil sie aus ihren Taten lernen. Wenn einer aufgrund einer Haaranalyse eines Verbrechens überführt wurde, hat er im Gefängnis fünf Jahre Zeit darüber nachzudenken, wie er das zukünftig verhindern kann und beginnt sich am ganzen Körper zu rasieren. Dann ändert sich der MO.

Gibt es auch Facetten des Tatverhaltens, die sich niemals ändern?
Die Fantasieumsetzung, wie zum Beispiel ein Sexualverbrechen im Einzelnen zu geschehen hat. Kriminalpsychologen unterscheiden zwischen pragmatischen und nicht-erforderlichen Entscheidungen. Pragmatische Entscheidungen dienen dem primären Zweck, also zum Beispiel der Tötung des Opfers. Nicht-erforderliche Entscheidungen hingegen umfassen Handlungen, die mit der eigentlichen Tötungshandlung nichts zu tun haben. Die entscheidende Frage hier ist also: Was hat der Täter getan, was er nicht hätte tun müssen?

Was für Entscheidungen fallen in diese Kategorie?
Wenn der Täter das Opfer auffordert, ganz bestimmte Wörter und Sätze zu sagen. Die Art und Weise, wie er selber mit dem Opfer spricht. Natürlich jegliche Formen post-mortaler Verletzungen wie das Einführen von Gegenständen in Geschlechtsöffnungen. Auch ob jemand das Opfer einfach liegen lässt oder es in einer bestimmten Pose degradiert, hat nichts pragmatisch mit der Tötungshandlung zu tun, sondern drückt ein persönliches Bedürfnis aus. Bei einem Sexualverbrechen werden insbesondere in diesen nicht-erforderlichen Entscheidungen die Fantasien sichtbar, die man umsetzen möchte.

Angenommen, Sie haben nun Dutzende solcher Entscheidungen eines Sexualstraftäters identifiziert. Wie gelingt es Ihnen, davon ausgehend auf die Bedürfnisse des Täters zu schliessen?
Es ist eben gerade kein Nachdenken im klassischen Sinne, bei dem ich umgeben von hundert Tatortfotos im stillen Kämmerlein sitze und mir den Kopf darüber zerbreche, welche Bedürfnisse den Täter wohl dazu gebracht haben, dieses Opfer mehrfach zu vergewaltigen, mit vierzig Messerstichen umzubringen, die Leiche zu schänden und sie dann in einer degradierenden Weise auf einer Müllhalde abzulegen. Genau deshalb sage ich jeweils: Wir können nicht in den Kopf dieser Täter schauen, nicht so denken wie sie, wir können nur ihre Schuhe verwenden. Ich kann mich nur darauf verlassen, dass Menschen, die ähnliche Spuren hinterlassen haben, ähnliche Bedürfnisse gehabt haben – und sie danach fragen.

Sie gehen also zu verurteilten Straftätern, die ähnliche Delikte begangen haben, und befragen sie. Wann ist für Sie ein Fall vergleichbar?
Wenn ich einige oder überhaupt deckungsgleiche Verhaltensweisen habe. Wie viele Verbrechen haben Sie in der Schweiz, wo Frauen im Alter zwischen 25 und 40 Jahren vergewaltigt und erstochen wurden? Sagen wir 200. Bei wie vielen davon wurde die Leiche nachher zugedeckt? 70. Wie vielen davon wurden nach dem Erstechen noch post-mortale Schnittverletzungen zugefügt? 22. Wie viele Fälle haben Sie, wo darüber hinaus noch ein Körperteil abgeschnitten wurde? 2.

Welche Bedürfnisse wollen solche Sexualstraftäter mit ihren Taten befriedigen?
Es gibt so viele Bedürfnisse wie Menschen. Bei einer Vergewaltigung können Sie jedoch vier Gruppen unterscheiden. Die erste Gruppe glaubt, ihre Männlichkeit nicht zum Ausdruck bringen zu können, ist unsicher und auf Kontrolle aus. Deswegen haben sie eine ganz bestimmte Form, wie sie Kontakt mit dem Opfer aufnehmen, indem sie zum Beispiel nach einem Überraschungsangriff um 5 Uhr morgens vor dem Bett stehen, die Frau fesseln, Zeit mit dem Opfer verbringen. Der zweiten Gruppe geht es um Macht und Dominanz. Die zeigen ein anderes Kontrollverhalten, anderes Verhalten bei Widerstand des Opfers, anderes sexuelles Verhalten. Die dritte Gruppe treibt das Bedürfnis an, Frauen zu demütigen, und die vierte und seltenste Gruppe sind die Sadisten. Denen geht es vor allem darum, ihr Opfer zu quälen, es leiden zu sehen, es um Hilfe betteln zu hören.

Können Sie die Bedürfnisse übersichtshalber grob klassifizieren? Sprechen wir von Sexualverbrechen und sexuellen Tötungsdelikten.
Eine destruktive Sexualität und destruktive Fantasien am Tatort beinhalten meistens drei elementare Bedürfnisse: Macht, Dominanz und Kontrolle. Deshalb ist das Tatverhalten vieler Sexualstraftäter davon geleitet, sich bei der Umsetzung ihrer Fantasien möglichst eng an ihr eigenes Drehbuch zu halten. Bei sexuellen Tötungsdelikten hat sich dieses Bedürfnis über Wochen, Monate und Jahren aufgebaut und ist entsprechend stark ausgeprägt.

Das erinnert mich an den Serienmörder Jeffrey Dahmer, der in den 90er Jahren in den USA insgesamt siebzehn junge Männer in seine Wohnung gelockt, getötet, die Leichen zerstückelt und teilweise gegessen hat. Sie haben im Hochsicherheitstrakt mit ihm gesprochen. Was haben Sie dabei gelernt?
Zwei Dinge. Zum einen, welch unglaubliche Bedeutung die Fantasie-Entwicklung für Delikte hat, die wir scheinbar überhaupt nicht verstehen können. Dahmer wollte sich Sex-Roboter aus Fleisch und Blut schaffen, die er absolut unter Kontrolle hat und hat seinen betäubten Opfern deshalb den Schädel aufgebohrt und Säure einfliessen lassen. Diese Fantasie hat er im Laufe der Jahre mit immer mehr Details angereichert und weiterentwickelt. Und zum andern lernte ich zu verstehen, dass diese Fantasie-Entwicklung nach aussen hin nicht sichtbar ist – nicht bei einer Hausdurchsuchung, nicht, wenn ich ein Fahrzeug anhalte und schon gar nicht, wenn ich einen solchen Menschen zum Nachbarn habe und am Samstagnachmittag mit ihm Smalltalk mache. Aber es gibt einen Augenblick, wo ich sie sicher sehen kann: am Tatort selber.

Bei Serienmördern wie Dahmer leuchtet uns unmittelbar ein, dass sie hochgefährlich sind, bei anderen Tätern weniger. Sie sagen nun, dass Informationen über das Tatverhalten helfen, die Gefährlichkeit beurteilen zu können.
Ja. Wobei ich betonen will, dass Gefährlichkeitsbeurteilungen bei gefassten Tätern sowohl von Gesetzes wegen als auch inhaltlich nicht Aufgabe der Kriminalpsychologie sind. Wir können allerdings sagen: Aufgrund der Tatsache, dass dieses bestimmte Verhalten vorliegt, würden wir denjenigen, der dieses Verhalten gezeigt hat, als besonders gefährlich ansehen.

Was für ein Tatverhalten zeigt ein hochgefährlicher Straftäter?
Lassen Sie mich dazu erst eine Frage stellen: Wenn ich auf der einen Seite die Ehefrau habe, die nach einem 30-jährigen Martyrium giftige Pilze zum Abendessen kocht, aus Hass, Wut, Zorn – und auf der anderen Seite habe ich jemanden, der über Wochen und Monate fantasiert und dann wahllos nachts im Park eine Frau auswählt, um seine Fantasien an diesem Opfer ausleben zu können. Wer ist nun Ihrer Meinung nach gefährlicher?

Letzterer.
Genau. Denn da handelt es sich nicht um ein Beziehungsdelikt, sondern um eine Sexualstraftat. Jetzt kann ich Ihnen diesbezüglich die drei Kernentscheidungen nennen, nach denen ich im Hinblick auf die Beurteilung der Gefährlichkeit suche. Erstens: Wie hoch ist der Grad der Planung? Da geht es darum, ob alles im Detail vorbereitet wurde, die Tatwaffe, die Präparation des Fahrzeugs, die Fesseln, der Ablageort – und das Opfer ist eigentlich nur noch Mittel zum Zweck. Zweitens: Wie stark prägt die Umsetzung der Fantasien die Tat? Das betrifft zum Beispiel Täter, die ein sexuelles Bedürfnis ausschliesslich mit nicht-sexuellen Handlungen befriedigen. Denken Sie an Jeffrey Dahmer, der nie mit seinen Opfern Geschlechtsverkehr hatte, sondern seine Fantasien anders ausgelebt hat. Das ist anders zu bewerten, als wenn jemand vor allem eine klassische sexuelle Handlung am Opfer durchführt. Drittens: Wurde nach der Tötung ein spezielles Verhalten am Opfer durchgeführt, die sogenannte Depersonifizierung? Das kann beispielsweise das Zudecken der Leiche sein.

Und wenn Sie nun alle drei Merkmale eines solchen Tatverhaltens identifizieren können, dann ist dieser Täter aus Ihrer Sicht hochgefährlich.
Ja. Aber das ist zugeschnitten auf sexuelle Tötungsdelikte. Und nochmals: Sie brauchen sehr viele Einzelinformationen, die Sie dann wie in einem Puzzle zusammensetzen. Ein paar wenige Informationen alleine sind völlig wertlos. Sie können zum Beispiel nicht kommen und sagen: Herr Müller, ich habe da das abgeschnittene Bein einer 30 – 35-jährigen Frau auf der Müllhalde gefunden – ist der Täter gefährlich? Tötungshandlung, Alter des Opfers und Ablage der Leiche können zu einer bestimmten Schlussinterpretation führen. Es kann aber sein, dass die zusätzlichen Informationen über die post-mortalen Verletzungen und die Art und Weise, wie die Schnitte geführt worden sind, eine andere Interpretation nahelegen.

Sie selber befassen sich als Kriminalpsychologe nicht mit der Frage der Therapierbarkeit von einzelnen Tätern, sagten aber an anderer Stelle klar: «Wir dürfen nicht in den Wahnsinn verfallen, zu glauben, alle Menschen seien im Prinzip therapierbar.» Was macht Sie da so sicher
Die Erfahrung. Wir haben in der Republik Österreich eine Zeit gehabt, wo eine ganz bestimmte Gruppe, die ideologisch angehaucht war, der Meinung war, dass jeder Mensch therapierbar ist. Also hat man Paradebeispiele für geglückte Resozialisierungen gesucht. Das berühmteste Beispiel war Jack Unterweger, der in den 80er Jahren wegen Mordes im Gefängnis sass, dort Gedichte verfasste und dann nach sechzehn Jahren, von der High Society gefeiert, entlassen wurde. Sechs Monate später begann eine Serie von Morden an Prostituierten in mehreren Ländern. Schliesslich wurde Unterweger nach 650 Tagen Freiheit von der Staatsanwaltschaft in 11 Fällen des Mordes angeklagt und in erster Instanz in 9 der 11 Fälle verurteilt.

Der Hirnforscher Niels Birbaumer ist überzeugt davon, dass alle Psychopathen im Prinzip therapierbar sind und begründet dies mit der Veränderbarkeit des Gehirns.
Ich bin nicht befugt, ihn zu kritisieren. Aber ich möchte dieser Überzeugung ein Zitat eines Menschen gegenüberstellen, der ganz genau weiss, wovon er spricht, wenn er sagt: «Wenn ein Mensch jemals ein sexuelles Tötungsdelikt begangen hat, will er es immer wieder tun, egal, was passiert.» Weil die Fantasie, dass es nächstes Mal noch besser wird, stärker ist als alles andere. Der Satz stammt von Frank Gust, der tausende von Tieren schändete, später in Totenhallen eindrang und seine Fantasien an Leichen umsetzte, bevor er schliesslich vier Menschen ermordete und teilweise verstümmelte.

Täter wie er sind sicher hochgefährlich – aber weshalb sollten sie nicht therapierbar sein?
Therapierbarkeit bedeutet, jemandem ein höheres Gut anzubieten, damit er auf ein anderes verzichtet. So funktionieren wir alle. Menschen, die hochgeplante sexuelle Tötungsdelikte verüben, haben eine unglaubliche Fixierung auf ihre Fantasie. Ein mehrfacher Frauenmörder sagte mir einst: «Meine Fantasien sind wie ein Schloss mit tausend Räumen. Hinter jeder Tür ist es so interessant, dass ich unbedingt den nächsten Raum sehen will, und dann noch einen und noch einen ...» Und jetzt habe ich eine Frage an Sie: Was wollen Sie diesem Menschen anbieten, damit er sein Schloss verlässt?

Die Fragen.

Wann ist ein Straftäter nicht therapierbar?

Ein Straftäter wird lebenslang verwahrt, wenn er dauerhaft nicht therapierbar ist. Doch was genau braucht es dafür?

Niels Birbaumer

Alle Psychopathen sind therapierbar

Theoretisch. Aber wir wissen noch nicht genau, welche Massnahmen in der Praxis wirksam sind, räumt der Tübinger Hirnforscher Niels Birbaumer ein.

Thomas Müller

Was hat der Täter getan, was er nicht hätte tun müssen?

Diese nicht-erforderlichen Entscheidungen sagen viel über die Bedürfnisse eines Täters aus. Und über seine Gefährlichkeit, sagt der Kriminalpsychologe Thomas Müller.

Frank Urbaniok

Es geht um eine Güterabwägung

Wenn bei einem Täter die Risiken deutlich schwerer wiegen als die Chancen, dann ist er möglicherweise dauerhaft unbehandelbar, sagt der forensische Psychiater Frank Urbaniok.

Marc Graf

Risikoprognosen für Straftäter sind unscharf

Würde man in der Physik mit dieser Irrtumswahrscheinlichkeit arbeiten, würden alle Raketen vom Himmel fallen, sagt der forensische Psychiater Marc Graf.

Thomas Noll

Man muss den Haftverlauf des Täters genau beobachten

So besteht der Sinn von Strafvollzugslockerungen gerade darin, dass man überprüfen kann, wie gut das Erlernte umgesetzt wird, sagt Thomas Noll, Direktor des Schweizerischen Ausbildungszentrums für das Strafvollzugspersonal.

Alle Gespräche in einem Band

Ein Straftäter wird lebenslang verwahrt, wenn er dauerhaft nicht therapierbar ist. Doch was genau braucht es dafür?