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Reto Huber

Blühen, stutzen, blühen, stutzen

Im Wachzustand üben Kinder zu laufen, zu sprechen, Gesichter zu lesen, sich zu kontrollieren. Doch erst im Schlaf werden daraus richtige Entwicklungsschritte, erklärt der Schlafforscher Reto Huber.

Reto Huber, warum schlafen wir mit zwei Jahren fast doppelt so lange wie mit zwanzig Jahren?
Weil wir als Kleinkind sehr viel lernen müssen.

Dann wäre es ja naheliegend, möglichst lange wach zu sein.
Nein. Weil Kleinkinder so viel aufnehmen müssen, brauchen sie mehr Erholung und mehr Schlaf. Die Grundidee besteht darin, die Wachphase und den Schlaf als zwei Gegengewichte anzusehen, die immer wieder ein Gleichgewicht herstellen, damit das Gehirn optimal funktionsfähig und lernbereit ist.



Und weil auf ein 2-jähriges Kind so viele neue Eindrücke einströmen, wird viel schneller als bei Erwachsenen das Gegengewicht des Schlafs in Gang gesetzt.
Ja. Jedes biologische System, das grosse Mengen an Informationen aufnimmt, stösst irgendwann an Kapazitätsgrenzen. Es braucht eine Gegenbewegung, in der aufgeräumt, entrümpelt wird.

Was genau passiert im Gehirn?
Die Anzahl Synapsen, also der Verbindungen zwischen Nervenzellen, nimmt im Wachzustand zu, weil wir ständig Informationen aufnehmen. Ein 2-jähriges Kind auf dem Spielplatz etwa sieht, hört, riecht und kommuniziert sehr intensiv. Während des Schlafs hingegen, wenn unser Gehirn keine Informationen mehr von aussen aufnimmt, nimmt die Anzahl der Verbindungen gesamthaft wieder ab. 

Warum?
Damit das Gehirn im Wachzustand wieder optimal aufnahmefähig ist. Sie können den gesamten Mechanismus des Auf- und Abbaus von Synapsen bildhaft als ein Zusammenspiel zwischen Blühen und Stutzen verstehen. Das Blühen passiert tagsüber, da verhält sich das Gehirn wie ein Strauch, der dauernd neue Verbindungen produziert. In der Nacht werden die Verästelungen dann überprüft: Was brauche ich jetzt wirklich? Was ist wichtig? Das wird gestärkt, der Rest wird gestutzt.

Kann man das als Grundregel formulieren: Tagsüber werden Synapsen vermehrt, im Schlaf reduziert?
Wenn man ganz genau hinschaut, sieht man, dass in beiden Phasen Synapsen produziert wie auch abgebaut werden. Insgesamt werden aber im Wachzustand mehr Synapsen aufgebaut als gekappt, das ist schon richtig. Und im Schlaf ist es genau umgekehrt. Zusätzlich ist wichtig: Das betrifft jetzt den Rhythmus von 24 Stunden. Es gibt aber auch das langfristige Muster: Bis kurz vor der Pubertät werden mehr Synapsen auf- als abgebaut. In der Adoleszenz hingegen ist es umgekehrt, da werden im Zuge einer grossen Reinigung im Gehirn mehr Synapsen ab- als aufgebaut.

Bleiben wir bei den ersten Lebensjahren. Was lernen Kleinkinder im Schlaf?
Eine attraktive Hypothese besagt, dass hier grundlegende Entwicklungsschritte angebahnt werden – etwa was die Motorik, das Sehen, Hören, Riechen betrifft. Bei kleinen Kindern muss zum Beispiel jede einzelne Nervenzelle in den motorischen Arealen lernen, welchen Muskel sie ansteuern muss, wenn ein Befehl zur Armbewegung kommt. Das macht sie im Schonraum des REM-Schlafs. Hier hat man keine Muskelspannung und kann so gefahrlos alle Muskeln spezifisch ansteuern und testen: Wenn diese Hirnzelle aktiv ist, wird dieser Muskel aktiviert, bei jener Hirnzelle ist es jener Muskel und so weiter. Ich stelle mir immer einen Baum voller Glühbirnen vor, mit einem Riesengewirr von Kabeln, die herunterhängen, und wenn man nun wissen möchte, welches Kabel mit welcher Glühbirne verbunden ist, muss man halt alles mal durchklicken und schauen, welche jeweils leuchtet.

Ist das ein Programm, das automatisch abläuft – oder ist es abhängig davon, welche Erfahrungen man tagsüber gemacht hat?
Man geht davon aus, dass diese Entwicklungsschritte programmiert sind. Denken Sie nur schon an Babys, die lächeln, ohne dass dies im Wachzustand unbedingt eine Rolle gespielt hat. Hirnzellen versuchen in der Phase des Blühens zu expandieren und so viele Verbindungen wie möglich herzustellen. Für die Idee eines Programms spricht auch, dass das Gehirn in einer bestimmten Reihenfolge reift, nämlich von hinten nach vorne: visuell, sensorisch, motorisch, am Schluss die höheren kognitiven Funktionen.

Unsere Leitfrage heisst ja: Was lernt man im Schlaf? Auf die ersten Lebensjahre bezogen ...
... würde ich zusammenfassen: Der Schlaf unterstützt das Erlernen grundlegender Entwicklungsschritte. 

Was wären solche Entwicklungsschritte?
Es gibt gute Hinweise, dass der Schlaf etwa dazu beiträgt, Muskeln zu koordinieren, häufige Laute der Muttersprache zu identifizieren oder bedeutende Gesichter wiederzuerkennen, um nur mal drei Beispiele zu nennen. Man muss sich aber immer bewusst sein: Der eigentliche Erwerb dieser Fertigkeiten findet im Wachzustand statt – der Schlaf wirkt hier nur unterstützend.

Nachdem der REM-Schlaf in den ersten beiden Jahren zentral ist, kommt dann die Phase, in welcher der Tiefschlaf mehr Raum einnimmt.
Sobald die höheren kognitiven Funktionen wichtig werden, ja. Der Tiefschlaf wird durch die ganz langsamen Hirnstromwellen charakterisiert. Im Kindesalter nimmt er exponentiell zu, erreicht kurz vor der Pubertät das Maximum, nimmt danach wieder ab und bleibt dann im Erwachsenenalter weitgehend stabil. Die langsamen Wellen zeigen sich besonders in jenen Hirnregionen, die grad reifen, also im Wachzustand besonders stark blühen. In diesen Hirnregionen wird dann während des Tiefschlafs aufgeräumt: Wichtige Verbindungen werden gestärkt, unwichtige Verbindungen werden abgebaut.

Am Tiefschlaf kann man den Reifegrad einer Hirnregion erkennen?
Genau. Grob gesagt sind einem 2-jährigen Kind im Tiefschlaf die hinteren Regionen besonders aktiviert, bei einem 5-Jährigen schon viel stärker die mittleren und bei einem 10-Jährigen entsprechend auch die vorderen Areale.

Wenn nun ein Kind eine Nacht im Schlaflabor verbringt und Sie dessen Daten des Tiefschlafs vor sich haben – können Sie aus diesem Muster den Entwicklungsstand des Kindes herauslesen?
Grundsätzlich ist das denkbar, ja. Aus diagnostischer Sicht ist der Schlaf aber insbesondere deshalb besonders interessant, weil man nicht auf das Mitmachen des Gegenübers angewiesen ist. Das kann in bestimmten Situationen ein entscheidender Vorteil sein.

Woran denken Sie konkret?
Ich kann Ihnen drei Beispiele aus der klinischen Praxis geben. Erstens: Ein Problem ist jenes der mangelnden Motivation. Wenn ein Kind nicht motiviert ist, einen Test zu machen, kann das Ergebnis natürlich verfälscht werden. Im Schlaf fällt diese Schwierigkeit weg. Zweitens: Wenn Kinder ganz jung sind, stossen wir manchmal an unsere Grenzen. Gleichzeitig ist es wichtig, Entwicklungsprobleme so früh wie möglich zu diagnostizieren. Drittens: Kinder mit schweren Hirnverletzungen zu untersuchen ist komplex. Liegen sie im Koma, bekommt man auf bestimmte Reize kein Feedback. Da kann man unter Umständen mit einem Schlafprofil zeigen, dass bestimmte Regionen noch plastisch sind.

Aber damit wir das einordnen können: Das sind absolute Ausnahmen.
Klar. Die meisten Abklärungen – zum Entwicklungsstand der Motorik, der Sprache, der Intelligenz, der Sozialkompetenz und so weiter – führt man mit sehr guten Instrumenten im Wachzustand durch. Den Entwicklungsstand über den Schlaf abzuklären ist sicher kein Gold-Standard, aber eine Möglichkeit für speziell schwierige Situationen.

Eine spezielle Herausforderung liegt beispielsweise dann vor, wenn Kinder Entwicklungsprobleme haben. Was lesen Sie aus dem Schlafverhalten von Kindern mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)?
Diese Kinder zeigen dasselbe Entwicklungsmuster wie andere Kinder auch, es ist aber um zwei bis drei Jahre verzögert. Bei einem 10-jährigen Kind mit einer ADHS ist das Stirnhirn weniger ausgereift als bei einem anderen Kind – und dementsprechend weniger aktiv, sowohl tagsüber als auch während des Schlafs. Naheliegend wäre deshalb, dass man sagt: Die Aufmerksamkeitsprobleme und Hyperaktivität hängen damit zusammen, dass das Stirnhirn zu wenig Power hat, um andere Regionen kontrollieren und regulieren zu können, zum Beispiel die motorischen Areale.

Welche Rolle spielt da der Schlaf?
Das ist eine ganz zentrale Frage, aber da sind wir erst am Anfang der Erforschung. Im Moment befinden wir uns in der Phase, in der wir von stabilen Korrelationen zur Frage übergehen: Was genau ist jetzt kausal? Was man sagen kann: Die Entwicklung der Schlaftopografie ist früher beobachtbar als die Entwicklung des Verhaltens und sogar früher als jene der Anatomie. Zumindest teilweise. Wir vermuten deshalb, dass der Schlaf die Rolle eines Wegbereiters spielen könnte – was die darauffolgende Wachphase betrifft, aber auch, was die nächste Entwicklungsphase angeht.

Der Schlaf bereitet das Gehirn im Kleinen auf die nächsten zwölf Stunden vor, im Grossen aber auch auf die nächsten zwölf Monate.
Ich muss betonen, das sind im Moment noch Vermutungen, aber ja: Der Tiefschlaf könnte durchaus als eine Art Treibstoff betrachtet werden, der nötig ist, um die Entwicklung eines Menschen zu ermöglichen. 

Könnte man den Schlaf eines solchen Kindes optimieren?
Ja, indem man den Tiefschlaf gezielt verändert. Das gilt selbstverständlich für alle Menschen, nicht nur für Kinder mit einer ADHS. Nur so könnte man letztlich übrigens auch beweisen, dass der Tiefschlaf den Entwicklungsstand und somit die Lernbereitschaft eines Menschen kausal beeinflusst. Aktuell versuchen wir das zunächst mal bei Erwachsenen.

Was machen Sie konkret?
Wir arbeiten, wie Jan Born auch, mit sogenannten closed-loop Stimulationen. Das ist eine elegante Methode, weil sie nicht-invasiv und einfach anwendbar ist: Die Erwachsenen liegen im Schlaflabor, wo über eine Hirnkappe die Hirnströme aufgezeichnet werden. Nun detektieren wir über einzelne Elektroden die langsamen Wellen in Echt-Zeit und verstärken diese mit präzise getakteten Tönen.

Die Tübinger Forscher wollen damit das Vokabellernen verbessern. Was möchten Sie damit erreichen?
Wir streben erst einmal allgemein danach, die Qualität des Schlafs zu verbessern. Denn ein erholsamer Schlaf vor dem Lernen ist enorm wichtig. Nach einem Schlafentzug erzielt man schlechte Lernergebnisse – sogar dann noch, wenn man die darauffolgende Nacht ganz normal schlafen kann. Es wäre deshalb wichtig, dass gerade Jugendliche ausgeschlafen in die Schule gehen. Da haben wir noch ein grosses Potential.

Die Fragen.

Wie lernt man im Schlaf?

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