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Jan Born

In der Nacht wird die Post verteilt

Während wir schlafen, arbeitet unser Gehirn auf Hochtouren. Man kann sich das Ganze vorstellen wie in einer Briefzentrale, erklärt der Hirnforscher Jan Born.


Jan Born, am Ende Ihrer Vorträge erscheint der Satz: «Lernen im Schlaf – kein Traum.» Das macht Hoffnung!
Ja, wobei ich präzieren möchte, dass während des Schlafs nichts Neues dazugelernt wird. Aber es wird etwas Bestehendes verarbeitet. Um da nichts zu vermischen, sollte man drei Phasen der Gedächtnisbildung klar unterscheiden: Informationen werden zuerst aufgenommen, dann verarbeitet und schliesslich abgerufen.

Wo kommt der Schlaf ins Spiel?
Im Wachzustand werden alle Informationen in einem Zwischenspeicher abgelegt und gesammelt. Im Schlaf gelangen dann einige von ihnen in den Langzeitspeicher. 

Wie kann man sich diesen Zwischenspeicher vorstellen?
Sie können mit dem Bild einer Poststelle arbeiten. Die befindet sich im Hippocampus, der Gedächtniszentrale im Gehirn. Alle Informationen, die tagsüber eintreffen, werden dort in einem grossen Briefkorb abgelegt. Dieser wird während des Schlafs dann geleert: Die wichtigen Briefe werden in die entsprechenden Briefkasten im umliegenden Gehirn verteilt, die unwichtigen Briefe vernichtet.

Wann nehme ich Informationen tagsüber idealerweise auf, damit sie später im Schlaf prioritär behandelt werden?
Wenn Sie ausgeschlafen, erholt und konzentriert sind. Bei den meisten ist das in der Mitte des Vormittags der Fall.

Um 10 Uhr rum also?
Zum Beispiel. Bei Jugendlichen später. Die genaue Uhrzeit ist aber gar nicht so wichtig. Es kommt nicht in erster Linie darauf an, wann, sondern wie Sie lernen. 

Wie muss man etwas aufnehmen, damit es später im Schlaf möglichst gut verarbeitet wird?
Bleiben wir beim Bild der Poststelle. Alles, was tagsüber reinkommt, schmeisst man erst einmal in diesen Briefkorb rein, also in den Zwischenspeicher. Man kann sich diese Informationen als ganz fragile Spuren im neuronalen Netzwerk vorstellen, so was wie Notizen. Alle Notizen, die während des Tages in diesen Zwischenspeicher gelangen, kriegen einen Stempel: Die Sportresultate in der Zeitung – Stempel drauf. Die Sitzung in der Firma – Stempel drauf. Das Abendessen mit Freunden – Stempel drauf. Und so weiter. Je nach Stempel werden sie später im Schlaf besser in den Langzeitspeicher im Grosshirn übertragen. 

Welche Stempel führen dazu, dass etwas im Schlaf bevorzugt behandelt wird?
Emotionalität zum Beispiel. Die meisten von uns wissen noch ganz genau, wie sie von den Terroranschlägen von 9/11 erfahren haben. Das war aufregend, hat uns beschäftigt, wurde emotional sofort eingefärbt.



Was mache ich idealerweise unmittelbar nach einer Lernphase, in unserer Zeitabfolge also um etwa 11 Uhr?
Man kann eine frisch aufgenommene Repräsentation stärken, indem man verhindert, dass sie von der nächsten Information überlagert wird.

Was heisst das konkret?
Spazieren gehen, etwas malen, Sport treiben, meinetwegen auch ein Spiel machen. Aber eben keines, bei dem man etwas auswendig lernen muss, Memory zum Beispiel wäre schlecht.

Werden Informationen, die man kurz vor dem Schlaf aufnimmt, bevorzugt behandelt?
Ja, wenn man etwas dicht an der Schlafphase wiederholt, dann ist die Wahrscheinlichkeit grösser, dass dieses Material in den Langzeitspeicher transportiert wird. 

Also den Lernstoff für die Prüfung wiederholen – und dann sofort ins Bett?
Nein, eben grad nicht. Man muss das Gehirn zuerst noch runterfahren lassen.

Wie macht man das am besten?
Indem man wach bleibt, aber möglichst keine Informationen mehr aufnimmt. Wenn man beispielsweise Alkohol trinkt nach dem Lernen, wird das frisch Gelernte geschützt. 

Das werden sich jetzt garantiert alle merken können.
Verstehen Sie mich nicht falsch, ich möchte keineswegs zum Alkoholkonsum animieren, sondern einfach sagen: In dem Moment, in dem man ein Glas Rotwein zu sich nimmt, ist zwar die Aufnahme neuer Informationen stark vermindert – aber damit auch die retroaktive Interferenz und damit die Gefahr der Überlagerung. 

Gehen wir zum Schlaf und damit zur Verarbeitung der Informationen über. Warum macht das Gehirn das eigentlich nicht grad im Wachzustand? Das wäre doch viel effizienter.
Das Gehirn wäre schlicht überfordert, wenn man das, was reinkommt, gleichzeitig verarbeiten und abspeichern wollte. Man würde Halluzinationen bekommen.

Was passiert im Schlaf genau?
Man muss zwei Prozesse unterscheiden: Selektion und Transformation, also Auswahl und Umverteilung. Bei der Selektion werden die Notizen im Briefkorb nach wichtig und unwichtig sortiert. Das sind mal zwei Grundstapel. Dann geht man das Material noch genauer durch, vergleicht: Was passt da zusammen, wie kann man es weiter sortieren?

Wird auch schon was gelöscht?
Es gibt Hinweise, dass der Hippocampus ganz freigeräumt wird, um schnell wieder neue Inhalte aufnehmen zu können. Aber wir wissen es noch nicht.

Und wohin werden die Lerninhalte transportiert?
Man sieht im Hirnscan sehr schön, dass jene Hirnregionen, die im Wachzustand beim Lernen besonders aktiv waren, auch im Tiefschlaf besonders aktiviert werden. Wenn Sie zum Beispiel am Tag ein paar Fachbegriffe auswendig gelernt haben, dann feuern auch im Tiefschlaf besonders die involvierten Bereiche des sprachlichen Netzwerkes. Das sind die Briefkästen, die im umliegenden Neocortex verteilt sind. In der Nacht wird die Post verteilt.



Gehen wir weiter bis zum Aufwachen. Wie ruft man das Gelernte am besten ab?
Da ist es ähnlich wie beim Aufnehmen. Schlaf hat generell auch eine Erholungsfunktion. Ausgeschlafen kann man leichter Informationen aus dem Langzeitgedächtnis abrufen. 

Gleich nach dem Aufstehen?
Nein. Unmittelbar, nachdem der Wecker geklingelt hat, wäre es eher schlecht. Aufwachen ist kein Prozess, der völlig synchron verlaufen würde. Ein Teil des Gehirns kann durchaus im Wachzustand sein, während der andere Teil noch im REM-Schlaf verharrt. Warten Sie, bis Sie völlig wach und konzentriert sind.

Spielt es eine Rolle, wie man abruft?
Man sollte es in einem anderen Kontext abrufen als man es aufgenommen hatte.

Ich hätte es genau umgekehrt vermutet: Die Umgebung lernt man mit, und deshalb sollte man wieder am gleichen Ort lernen.
Es stimmt, dass Sie die Umgebung mitlernen – und gerade deshalb sollten Sie beim Abrufen den Kontext ändern. Wenn Sie als Student daheim im Wohnzimmer lernen und dann in der Prüfung beim Professor sitzen, dann müssten Sie den Umweg gehen und sich mental hineinversetzen in Ihr Wohnzimmer. Also lernen Sie besser gleich auf eine Kontextunabhängigkeit hin.

Wenn man sich über etwas ärgert, heisst es oft: Schlaf mal drüber, am nächsten Tag sieht es schon wieder anders aus. Hat das was?
Ja. Denn was würde passieren, wenn man es nicht tut? Man hat ein tiefgehendes Erlebnis, schläft nicht, hat hohes Cortisol, der Hippocampus wird deshalb völlig umgangen, und die Inhalte werden irgendwo reingepflanzt – und damit auch einem geregelten Zugriff entzogen.



Reden wir noch kurz über die Zukunft. Mit all diesem Wissen um die Bedeutung des Schlafs für die Gedächtnisbildung wäre es ja naheliegend, den Tiefschlaf gezielt zu optimieren. Was können wir da in den nächsten Jahren erwarten?
Ich kann Ihnen sagen, was wir heute schon machen. Wir stimulieren zum Beispiel ganz gezielt die langsamen Hirnstromwellen im Tiefschlaf. Diese sogenannte closed-loop stimulation verstärkt die Reaktivierung der Gedächtnisinhalte. Wenn man seinen Schlaf verbessern will, wird das zukünftig eine der Methoden sein, die man auch in der breiten Bevölkerung leicht anwenden kann.

Wie muss man sich das konkret vorstellen?
Wenn Sie zum Beispiel grad spanisch lernen, dann würden wir Ihnen zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt im Tiefschlaf das deutsche Wort vorgeben, und Ihr Gehirn gibt dann die Antwort auf spanisch.

Ich dachte immer, dass während der Verarbeitung eben gerade keine neuen Reize aufgenommen werden sollten. Wird der Schlaf so nicht gestört? 
Nein. Sie haben einfach in ihrem Smartphone eine App, mit der man über die Auswertung Ihres EEG die langsamen Hirnstromwellen zu ganz bestimmten Zeitpunkten synchronisiert und dann entsprechende Reize einspeist, die reaktiviert werden sollen.

Bleiben wir in der Gegenwart. Wenn sich nun die Leserinnen und Leser diesen Text so gut wie möglich merken wollen, welche drei Tipps haben Sie?
Erstens: das Ziel bewusst machen. Wofür brauche ich den Text? Möchte ich mich selber verbessern, es jemandem erzählen? Zweitens: den Rhythmus beachten. Aufnehmen, wenn man maximal konzentriert ist – das ist für die meisten Menschen der Morgen. Dann in der Nähe der Schlafphase wiederholen. Wenn ich mir einen neuen Vortrag einprägen muss, dann mache ich das auch in den Abendstunden. Drittens: eine Pause machen, bevor man sich schlafen legt.

Und ein Glas Wein trinken?
Ja, aber erst nach dem Wiederholen. Und am besten nur eins, denn Alkohol hat auch einen möglichen Nachteil: Wenn man zu viel trinkt, wird der Tiefschlaf reduziert – und dann war die ganze Mühe praktisch umsonst.

Die Fragen.

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