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Christian Cajochen

Kein Medikament ist so gut wie Tageslicht

Der frühe Vogel fängt den Wurm – doch nur, wenn er beim Einschlafen und Aufstehen bestimmte Regeln befolgt, wie der Chronobiologe Christian Cajochen erklärt.

Christian Cajochen, wenn ein Jugendlicher um 06.30 Uhr aufstehen muss und achteinhalb Stunden Schlaf braucht, müsste er um 22 Uhr ins Bett gehen. Ist das realistisch?
Normalerweise nicht. Im Durchschnitt gehen die männlichen Jugendlichen unter den 16- bis 19-Jährigen etwa um 23 Uhr ins Bett, die jungen Frauen etwas früher. Aber nicht schon um 22 Uhr.

Hat man eine Erklärung dafür?
Zum einen verschiebt sich der circadiane Rhythmus, also die innere Uhr, im Verlauf der Pubertät nach hinten. Und zum andern können Jugendliche Schlafdruck besser aushalten als Kinder oder Erwachsene.

Das heisst, sie können länger wach bleiben, auch wenn sie müde sind.
Genau, sie haben eine lange Wachkapazität. Auf der anderen Seite verfügen sie allerdings auch über eine lange Schlafkapazität: Sonntags sind um 10 Uhr über die Hälfte der Jugendlichen noch im Bett, bei den über 70-Jährigen hingegen keiner mehr.

Warum verschiebt sich der Schlaf-Wach-Rhythmus so stark nach hinten?
Das verstehen wir noch nicht genau. Was wir wissen: Diese Verschiebung können Sie überall beobachten, in Europa und Asien ebenso wie in Afrika und Amerika, unabhängig von Kultur und Religion. Man geht deshalb davon aus, dass dieses Phänomen starke biologische Wurzeln hat. Interessanterweise kann man es sogar bei gewissen Tieren beobachten. Teenager-Ratten zum Beispiel werden auch später müde. Eine mögliche Erklärung dafür lautet, dass jugendliche Tiere eine zeitliche Nische suchen, um sich ungestört sexuell fortpflanzen zu können.

Sie gehen dennoch davon aus, dass diese Verschiebung starke biologische Wurzeln hat. Welche Anhaltspunkte haben Sie? 
Bei den Mädchen nimmt die Verspätung genau ab dem Zeitpunkt der ersten Regelblutung massiv zu, und zwar um etwa 20 Minuten pro Jahr. Mit 19 Jahren ist die Spitze der Kurve erreicht. Bei den Knaben setzt dieser Prozess 1-2 Jahre später ein, da haben wir den Stimmbruch als Marker genommen.

Können es Jugendliche lernen, am Abend besser runterzufahren?
Da hat man schon noch Spielraum, denn diese Verschiebung hat nicht nur biologische Ursachen. Jugendliche sind zum Beispiel abends lange künstlichem Licht ausgesetzt, das verschiebt den circadianen Rhythmus nach hinten – bei allen Menschen übrigens, nicht nur in der Pubertät. Dort haben wir dann allerdings einen doppelten Effekt: Jugendliche, die sowieso schon einen verspäteten Rhythmus haben und sich dann noch länger künstlichem Licht aussetzen, werden noch später müde.

Warum ist Licht am Abend problematisch?
Der blaue Anteil vom Licht ist entscheidend für die Eichung der inneren Uhr. Blaulicht unterdrückt die Produktion des Dunkelhormons Melatonin, weshalb man länger wach bleibt. Und dieses Blaulicht strömt aus allen Lichtquellen, mit denen sich die Jugendlichen in den Abendstunden umgeben – aus dem Computer, dem Smartphone, dem Fernseher. 

Was kann man dagegen tun? 
Es gibt Brillen mit einem Blaulicht-Filter. Tragen die Jugendlichen am Abend eine solche Schutzbrille, müssen sie ihren Lichtkonsum nicht einschränken, und trotzdem verschiebt sich ihr Schlaf-Wach-Rhythmus nicht zusätzlich nach hinten.



Und das funktioniert wirklich?
Ja, wir haben das untersucht. Dazu haben wir die Teilnehmer der Studie, alles junge Männer mit einem eher hohen Medienkonsum, gebeten, zuhause ab etwa 18 Uhr diese Schutzbrille aufzusetzen. Jeden Abend, eine Woche lang. Es zeigte sich, dass jene mit Brille spätabends schneller müde wurden als die anderen. Entsprechend waren ihre Melatonin-Werte höher, und zwar um 15 bis 20 Prozent.

Wie wirkte sich das auf die Bettzeiten aus?
Da die Bettgehezeiten in der Studie fix gehalten wurden, können wir das nicht sagen, aber die Produktion des Nachthormons Melatonin setzte 30-45 Minuten eher ein.

Das ist beachtlich.
Wir sind in erster Linie mal zufrieden, dass wir überhaupt einen Effekt messen konnten. Ob der nun klinisch relevant ist, müssen wir zuerst noch weiter untersuchen. Das waren jetzt mal zwölf männliche Jugendliche und insofern ein klassisches sogenanntes proof-of-principle Experiment, um empirisch zu zeigen: Ja, man kann entscheidend in den circadianen Rhythmus eingreifen, indem man das umgebende Blaulicht blockiert.

Aber bei Gewaltspielen nützt eine Brille auch nichts mehr, oder?
Klar spielt die Tätigkeit an sich auch eine Rolle. Aber nicht, was den circadianen Rhythmus betrifft, denn das Nachthormon Melatonin wird ausschliesslich durch das Licht gesteuert – und zwar unabhängig davon, was sie in den Abendstunden gemacht haben. Ob sie also mit der Schutzbrille unter der LED-Lampe ein Buch lesen oder am Laptop ein Computerspiel machen, spielt in Bezug auf die Melatonin-Produktion keine Rolle. Das Stresshormon Cortisol hingegen reagiert darauf, was man tut. Das Einschlafen wird also nicht nur circadian gesteuert, sondern auch durch psychische Faktoren. 

Ist es nicht unrealistisch, dass ein 17-jähriger Jugendlicher regelmässig eine solche Brille trägt?
Wir waren überrascht, wie sehr sie sich daran gehalten haben. Um dies zu überprüfen, haben wir in der Brille einen Sensor installiert, der gemessen hat, wann genau sie aufgesetzt war und wann nicht. Aber klar, solche Schutzbrillen haben auch Nachteile: Die Lichtqualität ist nicht so gut, man muss zum Beispiel ein bisschen näher an den Bildschirm ran. Und am Abend eine Art Sonnenbrille aufzusetzen, das ist ungewohnt. Aber zumindest unter der Woche ist es immer noch realistischer, als ganz auf elektronische Geräte zu verzichten. Und das Herunterfahren ist ja nicht auf das Filtern von Blaulicht beschränkt.

Was hat sich darüber hinaus bewährt?
Ich würde insgesamt vier Punkte nennen. Erstens: Man sollte versuchen, sich zu entspannen. Möglichst nichts tun, was psychisch und physisch zu stark erregt. Zweitens, wie erwähnt: sich so wenig wie möglich dem Blaulicht aussetzen, vielleicht sogar eine solche Schutzbrille verwenden. Drittens: kein Koffein, kein Alkohol und kein Nikotin. Das gehört zu den schlafhygienischen Massnahmen. Und viertens: Eltern sollten die Jugendlichen klar und konsequent darauf hinweisen, rechtzeitig schlafen zu gehen, das ist ganz wichtig. 

Nehmen wir an, die Jugendlichen befolgen diese Punkte und gehen bereits um 22.30 Uhr ins Bett. Danach schlafen sie achteinhalb Stunden bis um 7 Uhr. Sind beim Hochfahren am frühen Morgen dieselben Punkte zu beachten – einfach zum Teil andersrum?
Von der Grundidee her kann man das so sehen. Am besten gehen wir die einzelnen Punkte kurz durch.

Als ersten Punkt nehme ich einen, den wir vermutlich relativ schnell abhandeln können: die elterliche Unterstützung.
Ja, diese ist ohne Zweifel auch beim Aufstehen hilfreich. Je regelmässiger der Schlaf-Wach-Rhythmus, desto besser.

Zweitens: die Ernährung. Am Abend soll Koffein vermieden werden. Wie schaut das nun am frühen Morgen aus – genau umgekehrt?
Kaffee wirkt sicher sehr stark und macht wach. Aber auch da muss man realistisch sein: Die Jugendlichen sind ohnehin meistens im Zeitdruck, wenn sie zur Schule müssen. Man kann ja schon froh sein, wenn sie überhaupt ein kleines Frühstück einnehmen.

Dafür trifft man sie dann frühmorgens mit den Energydrinks an.
Die machen kurzfristig auch wacher, sind aber sicher nicht zu empfehlen, da gibt es bessere und gesündere Methoden.

Sie denken an den dritten Punkt: Tageslicht.
Genau. Licht ist der wichtigste Faktor für den circadianen Rhythmus und damit für die Eichung der inneren Uhr, denn es ist akut wachfördernd. Bei den nacht-aktiven Tieren ist es übrigens genau umgekehrt: Setzen Sie eine Maus dem Licht aus, die schläft innerhalb einer Minute ein. Es gibt kein Medikament, das so stark auf den Schlaf und in den circadiane Rhythmus eingreifen kann wie das Licht. Ideal wäre es, wenn die Jugendlichen ausreichend Morgenlicht tanken könnten. Im Sommer geht das auf dem Schulweg, im Winter ist es natürlich schwieriger. 

Was braucht es, um richtig wach zu werden?
Wir empfehlen mindestens eine halbe Stunde blau angereichertes Licht mit etwa 10'000 Lux. Dies gilt vor allem für Personen, deren Schlaf-Wach-Rhythmus verspätet ist und die am Morgen deshalb grosse Mühe haben.

Wie wäre es, wenn man diese halbe Stunde bei solchen Lichtverhältnissen verbringen würde, wie sie hier in Ihrem Büro herrschen?
Viel zu dunkel. Licht ist nicht gleich Licht, da muss man ganz viele unterschiedlich starke Lichtquellen unterscheiden. Gleich hier neben mir haben wir zum Beispiel eine klassische LED-Lampe, die leuchtet mit lediglich 385 Lux, das ist zu wenig für eine starke nicht-visuelle Lichtwirkung.

Sie machen deshalb ja auch Experimente mit naturbezogenen Deckenbeleuchtungen.
Ja, wir versuchen, mit speziellen Deckeninstallationen den Tagesgang zu simulieren. Da wird dann wirklich an der Decke die Dämmerung dargestellt, das Tageslicht mit Sonne, vorbeiziehenden Wolken, alles so natürlich wie möglich. Die ersten Versuche zeigten positive Wirkungen auf kognitive Funktionen: Die Menschen waren konzentrierter, aufnahmefähiger, lernbereiter.

Das steht in Zusammenhang mit dem vierten Punkt, den wir noch haben: Je interessanter, anregender die Tätigkeit, desto leichter fällt das Hochfahren.
Ja, das ist natürlich so: Sie können noch so gutes Licht haben – wenn der Unterricht nicht interessant ist, nützt das vermutlich herzlich wenig.

Für einen konzentrierten Schulbeginn ist das Licht demnach das Wichtigste, kann man das so sagen?
Nicht ganz. Ein ganz entscheidender Faktor fehlt noch.

Welcher?
Ich persönlich finde, am wichtigsten wäre es, den Unterrichtsbeginn später anzusetzen. Psychologen der Universität Basel führten eine Studie durch, bei der man den Unterrichtbeginn um 20 Minuten nach hinten verschoben hat. Das Ergebnis: Die Schüler fühlten sich wohler, hatten sogar bessere Noten und wollten nicht mehr zum Modell des früheren Unterrichtsbeginns zurück.

Was schlagen Sie vor? 
Realistisch wäre ein Beginn um 08.30 Uhr. Alles vor 8 Uhr ist zu früh für Jugendliche.

Und wenn die Schulglocke trotzdem bereits um 07.45 Uhr oder noch früher läutet?
Dann müssen viele Jugendliche mitten in der biologischen Nacht aufstehen, und zwar genau dann, wenn ihre Melatonin-Produktion auf Hochtouren läuft. Das fühlt sich in etwa so an, als würde man uns Erwachsene um 4 Uhr aus dem Bett reissen. 

Wie steht die Schweiz denn im internationalen Vergleich da, was den Schulbeginn betrifft?
In der Schweiz ist der Schulbeginn schon relativ früh angesetzt. In Grossbritannien zum Beispiel werden jetzt Studien durchgeführt, in denen die Auswirkungen einer Verschiebung von 9 Uhr auf 10 Uhr untersucht werden. Da wären wir auch mit einem Beginn um 08.30 Uhr immer noch vergleichsweise früh dran.

Ein klassisches Gegenargument lautet: Wenn wir später mit der Schule beginnen, aber alle unsere Lektionen unterbringen müssen, dann dauert der Unterricht einfach am Nachmittag viel länger ...
... was auch die Jugendlichen selber negativ finden, die wollen auch noch Freizeit haben. Ein Kompromiss wäre: Schulbeginn ist erst um 08.30 Uhr, dafür verkürzt man die Mittagspause, damit nach Schulschluss noch genug Zeit bleibt für Hobbys. Man muss das mal genau anschauen, das müsste meiner Meinung nach auch in der Schweiz möglich sein.

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